Zunächst hätte man meinen können: Ach ja, die alljährliche Verleihung des Prix Servais –; da treffen sich die ganzen Literati und Bücherwürmchen zur gediegenen Beweihräucherung eines der ihren im Merscher Literaturzentrum, man freut sich über einen Sitzplatz, man hört ein paar Reden, klatscht artig dazu, schwitzt vor sich hin und freut sich auf kühlen Sekt und leckere Häppchen. Alles wie immer.
Aber nein. Diesmal war damit zu rechnen, dass es ein wenig anders kommen würde als gewöhnlich; da knisterte es vor lauter Vorfreude förmlich im Saal. Bei einem Preisträger, der sich verschiedentlich mit den Titeln eines „Querulanten“, eines „Rumpelstilzchens“ oder gar eines „Regenwichts“ schmücken lassen muss, kann man sich eigentlich auf Randale einstellen.
Dabei war die Debatte um die Autorschaft des Romans Sibiresch Eisebunn bereits vor dem 5. Juli, dem Tag der Preisverleihung, so gut wie ausgeklungen. Nach Monaten heftigen Dementierens und wilden Geflunkers von Seiten des Autors war selbst dem hartnäckigsten Zweifler klar geworden, dass sich hinter dem Pseudonym „Tania Naskandy“ doch keine rothaarige Literaturdebütantin aus der Schweiz verbirgt, sondern die altbekannte Krawallschachtel aus Nospelt.
In allgemeinem Wohlgefallen hatte sich die Frage nach der Personalie damit allerdings nicht aufgelöst. Guy Rewenig ist der erste Autor, der den Prix Servais zum zweiten Mal erhalten hat. Der Vorwurf an die Jury, sie sei dem Versteckspiel des Autors aufgesessen und habe ihm die Auszeichnung in Unkenntnis seiner wahren Identität zugesprochen, ließ nicht lange auf sich warten1. Dass Rewenig letzte Woche in einem offenen Brief an Octavie Modert zum Rundumschlag gegen die Kulturpolitik der CSV ausgeholt und die Kulturministerin gebeten hatte, nicht an der Preisverleihung teilzunehmen, trug ein Übriges zum Eskalationspotenzial des Abends bei.
Doch von Krawall und Remmidemmi zunächst keine Spur. Die verbal abgewatschte Ministerin erscheint, wirkt gefasst bis gelassen. Der Preisträger sitzt ruhig auf seinem Stuhl (wenn auch nicht unmittelbar neben ihr) und macht erst einmal keine Anstalten, den Schachtelteufel zu geben.
In seiner Begrüßungsrede erklärt Manou Servais, geschäftsführender Verwaltungsrat der Fondation Servais, dass die Jury das beste Buch des Jahres prämiere, unabhängig davon, ob der Autor zuvor schon einmal ausgezeichnet worden sei. Es gibt diplomatische Worte Richtung Ministe-rium, es gibt symbolische Geschenke für die Preisträger (sinniger Weise einen Brieföffner für Rewenig). Man posiert für die Zeitungsfotografen. Man lächelt freundlich.
Dann der erste große Spannungsmoment: Die Ministerin listet die üblichen pauschalen Nettigkeiten auf, hält sich an allgemeine Aussaugen und lässt mit keinem Wort erkennen, ob sie Sibiresch Eisebunn gelesen hat oder nicht. Im Raum wird es so langsam unerträglich heiß, aber die Atmosphäre tendiert gegen versöhnlich. Serge Basso hält eine Lobesrede auf die Lyrikerin Nathalie Ronvaux, die für ihr unveröffentlichtes Erstlingswerk mit dem Prix d’Encouragement ausgezeichnet worden ist. Daraufhin liest Nathalie Ronvaux aus Vignes et louves. Allgemeines Schwitzen, dazu Jazzmusik. Es folgt eine erhellende, literaturwissenschaftlich fundierte Rede von Claude Conter über Sibiresch Eisebunn, in der der Vorsitzende der Jury nicht nur die Bedeutung des Romans erläutert, sondern auch auf die Autonomie des Textes, auf dessen Unabhängigkeit von Fragen der Autorschaft verweist. Lauter Beifall, wieder Musik.
Dann die zweite Aufregung des Abends: Wie ein polternder Alkibia-des bricht Paul Scheuer über die Sittsamkeit und den ordentlich geregelten Programmablauf herein und hält eine zweite Lobrede – nicht über das Buch, das er selbstredend nicht gelesen habe, sondern über den Autor beziehungsweise die Autorin („Tania Nasketty“ und so weiter). Das Publikum biegt sich vor Lachen.
Damit hätte der Abend im Grunde fast gelaufen sein können. Der Preisträger hätte sich nur schnell und artig zu bedanken brauchen und man wäre anschließend zum feuchtfröhlichen Teil der Abendgestaltung übergangen. Erwartungsgemäß wurde daraus nichts.
Mit der Ankündigung, die Temperatur, die er auf mittlerweile um vierunddreißig Grad einschätze, innerhalb von zehn Minuten auf zwanzig Grad abkühlen zu wollen, betritt Guy Rewenig das Rednerpult. Er nimmt nichts zurück. Er betont sogar, dass er nichts zurücknimmt. Er ätzt gegen die Ministerin und die Kulturpolitik der Konservativen, wiederholt in Kurzform die Vorwürfe aus seinem offenen Brief.
Die Rede, die er im Anschluss hält, trägt den Titel: „Iwwer Sträit“. Die Existenz eines Begriffs wie „Streitkultur“ zeige an, sagt Rewenig, dass Streit Kultur sei. Er meine damit den produktiven Streit, in dem zwei Kontrahenten sich argumentativ, aber nicht im Sinne politischer Korrektheit, nicht im Sinne „aseptischer Formulierungen“ gegenüberstehen. Die eigentliche politische Korrektheit, das wird schnell deutlich, ist für Rewe-nig das gegenseitige Zugeständnis des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Er nutzt die Gelegenheit, um für Marguerite Biermann und gegen den Vorwurf, die ehemalige Richterin sei eine Antisemitin, Partei zu ergreifen. Über sein Buch sagt er nichts. Er bekommt viel Beifall, aber selbst in den ersten beiden Reihen bleiben auch einige Hände untätig in den Schößen liegen. Die nunmehr zum zweiten Mal öffentlich kritisierte Ministerin bleibt immerhin zum Empfang, wo man sie bei einem langen, aber dem Vernehmen nach völlig ergebnisoffenen Zwiegespräch mit Rewenig beobachten kann.
Man muss Guy Rewenig nicht mögen. Fakt ist: Längst nicht jeder mag ihn. Man kann sich außerdem fragen, ob die Verleihung des Servais-Preises der richtige Ort für Diskus-sionen ist, die mit Literatur nur sofern zu tun haben, als Literatur eben allgemein mit den Belangen der Gesellschaft zu tun hat. Man kann über den Tonfall streiten, und über Nutzen und Zweck der sogenannten „politischen Korrektheit“. Man kann sogar grundsätzliche ästhetische Bedenken gegen Konzepte politisch engagierter Literatur und die Vorstöße politisch engagierter Literaten hegen. Jemand, der so heftig gegen andere polemisiert wie Guy Rewenig, darf und wird sich nicht wundern, wenn er gelegentlich auf Widerstand stößt.
Dass sich der Autor aber überhaupt, und das in regelmäßigen Abständen (mitunter sogar wöchentlich), in Situationen begibt, die ihn für andere angreifbar machen, dass er sich unmissverständlich dafür entscheiden kann, in Streitfragen auf einer Seite zu stehen, ist ein Verdienst, das zumindest bedenkenswert erscheint, – unabhängig von Rewenigs literarischem Verdienst, das ihm ohnehin niemand ernstlich abspricht, und unabhängig von persönlichen Sympathien oder Antipathien für den Autor.
Zum Streit gehört schließlich auch der Mut, eine Meinung konsequent und nominell zu vertreten. Meinungen sind eben keine von der Autor-instanz sachlich unabhängigen Fiktionen; wo eine öffentliche Debatte (und kein hinterhältiges Geplänkel) entstehen soll, müssen Meinungen zuschreibbar sein. Dass ihm der Unterschied zwischen literarischer Freiheit und Meinungsfreiheit bewusst ist, hat Guy Rewenig am Montag unter Beweis gestellt. Der Autor, der sich im Spiel, also in der Literatur, hinter einer fiktionalen Maske verborgen hatte, stand im Ernstfall für seinen Standpunkt ein.