Wettbewerbsfähigkeit

Abstieg in die zweite Liga

d'Lëtzebuerger Land du 01.10.2009

Es gibt nichts schönzureden. Luxem­burg verliert an Wettbewerbsfähigkeit. Das sagt nicht irgendein ausländisches Wirtschaftsinstitut, das die Luxemburger Partikularitäten nicht kennt und sich deswegen nach Meinung der Luxemburger Experten kei­ne Meinung bilden kann, sondern das heimische Observatoire de la Compétitivité. In deren Wettbewerbshitliste hat Luxemburg seit vergangenem Jahr drei Plätze eingebüßt und belegt fortan den 13. Rang. Damit ist das Land im EU-Vergleich im Mittelfeld angekommen. Das führt auf Arbeitgeberseite zum Aha-Effekt, denn davor warnen ihre Verbände seit jeher mit großer Ausdauer. Leider bleibt besagter Effekt auf der Arbeitnehmerseite aus. Dabei legte Wirtschaftsminister Jeannot Krecké (LSAP) am Montag bei der Vorstellung des Observatoire-Berichtes mit dem vielsagenden Untertitel „Préparer l’après-crise“ den Sozialpartnern eine ausführliche Lektüre des 200 Seiten schweren Dokumentes dringend ans Herz. Wenn es nach ihm geht, soll es in den kommenden Monaten als Grundlage für die Gespräche gelten, auf Basis derer dann die Weichen für die Zukunft gestellt werden sollen. Womit Krecké mehr oder weniger direkt Strukturrefor­men anmahnt.

Um die Wettbewerbsfähigkeit Luxem­burgs im Vergleich zu den EU-Staaten – darunter die wichtigsten Handelspartner Deutschland, Frankreich, Belgien – zu messen, beobachtet das Observatoire 79 verschiedene Indikatoren in zehn Kategorien. Damit nicht gleich der Verdacht aufkommt, nur ein möglichst liberaler Gesetzesrahmen werde belohnt: Wettbewerbsfähigkeit heißt in diesem Fall, „die Fähigkeit eines Landes, den Lebensstandard seiner Einwohner dauerhaft zu verbessern, die Beschäftigung und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft auf hohem Niveau zu halten und die Umwelt zu schützen“. Deswegen wird nicht nur die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Landes bewertet, sondern auch die in den Kategorien „soziale Kohäsion“ und „Umwelt“. Das mag nicht alle Skeptiker überzeugen. Doch mit dem Titel des wettbewerbsfähigsten Landes darf sich seit Jahren das sozialdemokratische Schweden schmücken, nicht unbedingt als Hort neo-liberaler Wirtschaftspolitik bekannt.

Im vergangenen Jahr konnte Luxem­burg noch mit den gesamtwirtschaft­lichen Entwicklungsdaten punkten und führt diese Kategorie weiterhin an – obwohl das Bruttoinland 2008 um 0,9 Prozent schrumpfte und die EU-Länder im Durchschnitt noch eine positive Entwicklung verbuchten (+0,9 Prozent). Dass Luxemburg dennoch gut da steht, liegt vor allem daran, dass das Pro-Kopf-Einkommen immer noch einsame Spitze war, die Arbeitslosigkeit und die öffentliche Verschuldung 2008 im Vergleich mit den EU-Ländern noch relativ gering waren und die Beschäftigung trotz Finanzkrise im zweiten Semester über das ganze Jahr betrachtet noch kräftig anstieg. Das lässt fürs kommende Jahr, da die Verschuldung auf fast 20 Prozent des BIP ansteigen wird und das Wachstum weiter auf sich warten lässt, nicht Gutes erahnen.

In der Kategorie Beschäftigung kann Luxemburg nur den 19. Rang unter den 27 Konkurrenten belegen. Grund dafür ist einerseits die nach Abzug der Grenzpendler vergleichsweise niedrige Beschäftigungsrate. Nur 63,4 Prozent der Einwohner im arbeitsfähigen Alter haben eine Anstellung. Bei den Frauen sieht es noch schlechter aus: Nur 55,1 Prozent der Frauen, die arbeiten könnten, tun dies tatsächlich. Andererseits zeigt sich hier deutlich das Problem, das droht, das Rentensystem zum Kollaps zu bringen. Nur 34,1 Prozent der 55- bis 64-jährigen sind noch beruflich aktiv, in Schweden dagegen 70,1 Prozent. In dieser Altersstufe gehen weniger als ein Drittel der Luxemburger Frauen einer bezahlten Tätigkeit nach, hingegen arbeiten in diesem Alter noch 66,7 Prozent der Schwedinnen. 

Die Ursachen für den Abstieg Luxemburgs sind, wie der Direktor des Observatoire, Serge Allegrezza, am Montag erklärte, vor allem in der Kategorie Produktivität und Arbeitskosten zu suchen. Die Produktivität von Kapital und Arbeit war 2008 im EU-Vergleich in Luxemburg am niedrigsten. Außerdem sank die Arbeitsproduktivität in Luxemburg am drastischsten und die Lohnstückkosten stiegen. Noch ist hierzulande die Produktivität pro Arbeitsstunde im Vergleich mit den USA sehr hoch (97,44 Prozent, europäischer Spitezenwert); die hiesigen Arbeitnehmer sind demnach pro Arbeitsstunde fast ebenso produktiv wie die amerikanischen. Doch wenn die Entwicklung in Luxemburg schneller rückläufig ist als in den Nachbarländern, heißt das, dass der Vorsprung auf die Nachbarländer schmilzt. Allein in dieser Kategorie hat Luxemburg 18 Ränge eingebüßt und befindet sich nunmehr auf dem 24. Platz.

Hinzu kommt, dass auch an anderer Stelle hohe Kosten die Unternehmen belasten. Die Resultate in der Kategorie „Fonctionnement de marché“ zeigen, dass Luxemburger Firmen 2008 hohe Energiekosten zu bestreiten hatten, Strom und Gas teurer sind, als anderswo in der EU. Die vergleichsweise niedrigen Telefon- und Mobilfunkgebühren werden das nicht wettmachen. Immerhin liegt Luxemburg, was den institutionellen Rahmen betrifft, im Spitzenfeld. Das liegt jedoch nicht an der günstigen Unternehmensbesteuerung, die mit 29,63 Prozent gut sechs Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt liegt, sogar einen Tick höher ist als in Deutschland. Auch nicht an der günstigen Besteuerung der Privateinkommen, die mit 38,9 knapp drei Prozentpunkte unter dem EU-Mittelwert liegt. Vielmehr sind es die niedrige Mehrwertsteuer, aber auch die vergleichsweise effizienten öffentlichen Behörden, sowie die hohe Achtung vor dem Gesetz und eine gute Reglementierung, welche positiv bewertet werden.

Schlecht steht es trotz Fortschritten immer noch um den Unternehmensgeist und die Bildung. Luxemburg bietet Professionellen wenig Anreize, sich selbstständig zu machen und neue Firmen zu gründen. Zwar gibt das Land am meisten für sein Bildungssystem aus, dennoch erreichen zu wenig Schüler einen Sekundarschulabschluss und die Zahl der Schulabbrecher ist höher als in den Nachbarländern. Von 27 EU-Staaten belegt Luxemburg in der Bildungsskala nur den 24. Rang. Außerdem tritt das Land bei der Entwicklung der Wissensgesellschaft auf der Stelle. Zwar haben sich eine ganze Reihe von Indikatoren verbessert, doch stammen die wenigsten Daten dieser Serie tatsächlich aus dem vergangenen Jahr. So gab es 2007 mehr Forscher pro 1 000 Einwohner als in den Vorjahren. Und die Zahl der Patente stieg 2008 ebenfalls. Die öffentlichen Ausgaben für Forschungskredite waren im europäischen Vergleich in Luxemburg am niedrigsten – auf Basis der Daten aus dem Jahr 2006.

Die Informationen über den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft sind ebenso wenig brandaktuell. So geht das Observatoire weiterhin davon aus, dass 14 Prozent der Bevölkerung auch nach Sozialtransfers dem Armutsrisiko ausgesetzt sind (2007), während die EU-Kommission damit rechnet, dass das Armutsrisiko in Luxemburg steigt (siehe Seite 4). Zudem wird es zunehmend schwieriger, sich aus der Armut wieder herauszukämpfen, bemerkt das Observatoire. Krasse Unterschiede bei der Gehälterverteilung verbleiben, es ist sogar schlimmer geworden. Auch bei der Gleichstellung von Männer und Frauen geht es nicht wirklich voran: 2006 verdienten Frauen für die gleiche Arbeit immer noch 14 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. 

Davon abgesehen, sind die Luxemburger Schmutzfinke, verursachen beispielsweise doppelt so viel Haushaltsmüll wie die Tschechen. Zu wenige Firmen investieren in die Erfüllung und Zertifizierung der ISO-Umweltnormen. Die Treibhausgasemissionen sind seit 1990 anders als in Kioto versprochen, kaum gesunken und der Anteil erneuerbarer Energien betrug 2007 magere 3,7 Prozent. Damit ordnet sich Luxemburg in der Umweltbilanz auf den untersten Rängen ein. 

„Nicht glücklich“, sei er über das Resultat, sagte der Wirtschaftsminister am Montag, doch wenn man Fieber habe, bringe es nichts, am Thermometer zu zweifeln. Nur lesen die Sozialpartner auf dem gleichen Ther­mo­meter verschiedene Temperaturen ab. Carlo Thelen, Ökonom der Handelskammer, ist von den Ergebnissen nicht überrascht. „Es ist das eingetreten, wovor wir gewarnt haben.“ Jetzt warnen er und seine Gesinnungsgenossen davor, über den Bemühungen, die konjunkturellen Probleme einzudämmen, die strukturellen Aspekte zu vergessen. Denn Luxemburg fällt im Klassement zurück, obwohl die Finanz- und Wirtschaftskrise sich erst in den Ergebnissen für 2009, also nächstes Jahr voll bemerkbar machen wird. „Wir brauchen nicht nur das Konjunkturpaket sondern, auch ein Strukturpaket“, so Thelen. 

„Unsere Angst ist es, dass man versucht mit dem Konjunkturpaket über die Runden zu kommen, bis sich die Konjunktur leicht erholt, und die Strukturreformen dann ausbleiben.“ Ohne diese Reformen drohe das böse Erwachen in einigen Jahren. „Nämlich dann, wenn die anderen Wirtschaften wieder voll boomen und unsere nicht Schritt hält.“ Trotz aller Bemühungen der vergangenen Jahren schneide das Bildungssystem immer noch schlecht ab, gibt er zu bedenken. „Und wir sehen, dass der soziale Zusammenhalt trotz hoher Sozialausgaben nicht besonders gut ist. Das System ist nicht effizient“, bemängelt er.  

Deswegen werden die Arbeitgeber in den Triparte-Tagungen, die Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV) bei unveränderter Wirtschaftslage für den Herbst versprochen hatte, unbedingt die Lohnindexierung thematisieren wollen, inklusive einer Reform des Warenkorbs und einer Deckelung der indexierten Gehälter. Denn die nächste, im kommenden Jahr fällig werdende Index-Tranche könnte die Unternehmen zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt erwischen, nämlich nach langer Entbehrungsphase, wenn die Reserven aufgebraucht sind, die Auftragslage noch immer schlecht und ihnen das Wasser bis zum Halse steht. Manche Firma drohe unterzugehen, warnt er.   

Die Arbeitnehmerkammer gibt sich hingegen gewohnt unbekümmert. „Nummer 1 in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, heißt es fettgedruckt in ihrer Stellungnahme zu den Ergebnissen und „konjunktureller Rückgang der Produktivität“, fettgedruckt und unterstrichen. Damit verirrt sich die Arbeitnehmerkammer mal wieder in der eigenen Positivpropaganda. Die soll natürlich deutlich machen, dass es keine tief sitzenden Probleme gibt und deswegen nicht am Index manipuliert werden muss. Dass man an Produktivität einbüße, sei, die natürliche Folge der Entwicklung zweier Parameter: Teilt man ein kleineres Bruttoinlandprodukt durch eine größere Anzahl Arbeitnehmer, sinkt automatisch deren Produktivität. So weit, so gut. Doch kann man dann gleichzeitig behaupten, makroökonomisch sei man Spitze und die Beschäftigung wegen der vielen Grenzpendler ein schlechter Indikator? 

Damit schlagen die Experten zudem alle Warnungen in de Wind, diese Krise sei anders als die bisher da gewesene. „Das Szenario von 2001 scheint sich zu wiederholen“, heißt es in der Mitteilung. Das soll bedeuten, sobald die Wirtschaft wieder wächst, steigt auch die Produktivität wieder. Nur ignoriert sie damit erstens, die keinesfalls ähnlich dramatische Entwicklung in anderen Ländern unter ähnlichen Verhältnissen und zweitens alle Vorhersagen, dass Luxemburg ernsthaft riskiert, nach der Krise überhaupt nicht zu den bisher bekannten Wachstumsraten zurückzufinden. Und sich demnach besagtes Szenario nicht wiederholen könnte. 

„La CSL rappelle que l’évolution de la productivité ne peut s’analyser sur des données conjoncturelles (en l’occurrence des entreprises qui continuent à recruter, alors que leur activité se réduit) qui ne retracent aucune tendance de fond.“ Wie das gehen soll, wenn doch einer der in die Rechnung einfließenden Werte, also das BIP, der Messwert der Konjunktur ist, wird wohl das Geheimnis der Arbeitnehmerkammer bleiben. Ebenso wie schleierhaft bleibt, weshalb sie bei der alten Taktik bleibt, wenn es schlecht geht, das Gegenteil zu behaupten, damit niemand auf die Idee kommt, soziale Einschnitte mit der schlechten Wirtschaftslage zu begründen und durchzusetzen. Wie wär’s wenn man die Strategie ein wenig anpassen würde? Man könnte einfach zugeben, dass es nicht gut aussieht. Und fordern, dass in der Situation die sozial Schwachen besonders geschützt und gefördert werden. 

Michèle Sinner
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