Am 10. Mai 1940 überfiel und besetzte die deutsche Wehrmacht Luxemburg. Nazi-Deutschland sah die Luxemburger als westlicher „Grenzposten“ des alten deutschen Reiches, von dem sie bloß vorübergehend getrennt waren und die es nun wieder „heim ins Reich“ holte. Dass die Mehrheit der Luxemburger das anders sah, führten die Nazis darauf zurück, dass sie im Laufe der Trennung „verwelscht“ wurden, durch französischen Einfluss verweichlicht. Deshalb hatte die im Juli 1940 ernannte Zivilverwaltung nicht nur den Auftrag, die politischen und administrativen Strukturen des souveränen Staates durch faschistische zu ersetzen, sondern auch die Luxemburger umgehend „einzudeutschen“, das heißt, die Spuren der französischen Kultur und Sprache zu löschen und durch deutsche zu ersetzen.
Neben der Zwangsverdeutschung französischer Vornamen und französischer Geschäftsnamen, der Entfernung französischsprachiger Bücher aus den Bibliotheken und Auslagen, der Beendigung des Französischunterrichts in den Primärschulen gehörte das Ersetzen der Straßennamen in Luxemburg, Esch-Alzette und anderen größeren Ortschaften zu den äußerlich auffälligsten Eingriffen. Anders als mit der Verordnung über den Sprachgebrauch vom 6. August 1940 ging es bei der Änderung der Straßennamen nicht nur darum, die französische Sprache aus dem Stadtbild zu verdrängen, sondern auch unliebsamen politischen Persönlichkeiten und historischen Ereignissen gewidmete Straßen umzutaufen, die Geschichte umzuschreiben.
In den meisten Ortschaften wurde nur eine Handvoll Straßennamen geändert. In Esch-Alzette waren es beispielsweise 17, wie einer Mitteilung des Schöffenrats vom 27. September 1940 zu entnehmen ist. Die nach dem sozialistischen Abgeordneten benannte Place Dr. Welter wurde in Schillerplatz umbenannt, die nach dem französischen Sozialisten benannte Rue Jean Jaurès in Siegfriedstraße und die nach dem Trierer Philosophen benannte Rue Karl Marx in Robert Kochgasse.
In der Hauptstadt widmete sich dagegen eine eigene Kommission dieser Aufgabe. „Die Verordnung des Chefs der Zivilverwaltung über den Gebrauch der deutschen Sprache hat eine rege Tätigkeit bei den Malern, Anstreichern, Druckereien und ähnlichen Betrieben hervorgerufen“, meldete das Luxemburger Wort am 19. September 1940. „Ab 30. September werden in Luxemburg nur noch deutsche Straßennamen und deutsche Geschäftsbezeichnungen zu lesen sein.“
Als Ergebnis der Kommissionsarbeit wurden im September 1940 139 Straßennamen in Luxemburg geändert. In der Hälfte der Fälle wurde der Name der Straße beibehalten, aber die Schreibweise wurde geändert. Aus der Triererstraße wurde so eine Trierer Straße, aus dem Altmünsterplateau wurde Auf Altmünster, aus der Kunigundestraße eine Kunigundenstraße, aus der Sedanstraße eine Sedaner Straße und aus dem Crisbinusberg ein Krisbinusberg. Bei einzelnen Personennamen wurden die Initialen gestrichen, bei anderen die Vornamen hinzugefügt. Aus Avenuen wurden Alleen.
Nicht minder gründlich bekamen ein halbes Dutzend Herrscher auf den Straßenschildern ihre Kaiser- und Königstitel hinzugefügt. Selbst aus der Rue Adolphe wurde eine Großherzog Adolfstraße, der Großherzog aus Wiesbaden war deutsch genug, damit die Erinnerung an ihn wach gehalten werden durfte.
Anderthalb Dutzend Straßen behielten ihre Namen, aber ihre städtebauliche Bedeutung wurde zurückgestuft. So wurde aus der Avenue Amélie eine Amalienstraße und aus der Rue des Bains eine Bädergasse. Wenn aus einer Straße in der Altstadt eine Gasse wurde, entsprach dies meist der umgangssprachlichen Bezeichnung. Die Bezeichnung Allee wurde nicht unbedingt besonders großen Straßen oder besonders wichtigen Personen vorbehalten, denn selbst aus der Avenue de la Liberté wurde keine Adolf Hitlerallee, sondern eine Adolf Hitlerstraße.
Für die andere Hälfte der Namensänderungen wurden die Straßen umgetauft, weil sie die Namen französischer oder US-amerikanischer Persönlichkeiten oder Ortschaften, sozialistischer oder jüdischer Luxemburger oder liberaler Deutscher trugen. Für mehr als ein Dutzend Straßen wurde dabei die umgangssprachliche Bezeichnung auf Deutsch übersetzt. Der schon vor dem Überfall in der Westforschung aktive Geograf Josef Schmithüsen erklärte den Rückgriff auf „Volkstümliches Namengut“ am 4. September 1940 im Luxemburger Wort: „Wo an den Hausecken die Namen ‚rue de Notre Dame’ oder ‚rue de Chimay’ zu lesen standen, sprach die Bevölkerung von ‚Enneschtgaß’ (Untere Gasse) oder von Dreikönigsgasse.“ Denn „auch wir müssen das Volk reden hören, wenn wir das Deutsche vom Welschen reinigen wollen. Das Volk hat immer seine deutsche Mundart gesprochen.“ Das Luxemburgische war zu dem Zeitpunkt kein Symbol nationalstaatlicher Eigenständigkeit, sondern ein willkommenes Instrument im Kampf gegen das Französische.
Wenn bei der Umbenennung nicht auf umgangssprachliche Namen zurückgegriffen wurde, dann, neben romantischen deutschen Dichtern, Komponisten und Forschern, bevorzugt auf franzosenfeindliche oder deutschfreundliche Männer aus der Luxemburger Geschichte, um so die Annexion historisch zu legitimieren. Konservative Intellektuelle im Umkreis der Gesellschaft für deutsche Literatur (Gedelit) hatten schon vor dem Überfall die luxemburgische Geschichte nach deutschen Helden durchforstet.
Zur Pflege dieser deutschfreundlichen Heimatümelei wurden, mit Ausnahme Hitlers, keine Nazi-Größen und deutsche Kriegshelden zur Benennung von Straßen herangezogen. Die Rue des Glacis wurde nach Michel Pintz umbenannt, dem Schéifermisch vun Aasselbuer, der gegen die französischen Revolutionstruppen aufbegehrte. Die nach dem französischen Dichter benannte Avenue Victor Hugo bekam den Namen von Karl Theodor André, der zwar einer der Pioniere der Luxemburger Arbeiterbewegung war, aber als Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung galt. Der französische Dichter Alfred de Musset musste dem deutschfreundlichen Autor von Die Sprache der Luxemburger (1855), Peter Klein, weichen.
Aus dem französischen Sozialisten Jean Jaurès wurde der Arloner Annexionist aus dem Ersten Weltkrieg, Gottfried Kurth. Die nach dem US-Präsidenten benannte Rue Wilson erhielt den Namen des Echternacher Politikers Matthias Hardt, der zwar in der 48-er Revolution Frühsozialist, aber deutschfreundlich war. Aus dem französischen Stenographen Emile Duployé wurde der zwei Jahre zuvor vestorbene siebenbürgische Sprachforscher Gustav Kisch.
Der bei einem deutschen Bombenangriff 1918 getötete Bonneweger Gastwirt Pierre Hentges musste dem Differdinger Notar Charles Ferdinand Vesque weichen, der 1794 zum Kampf gegen die französischen Revolutionstruppen aufrief. Der 1930 verstorbene Bürgermeister Luc Housse wurde durch den deutschen Athenäumslehrer und Schulreformer Heinrich Stammer ersetzt, und der sozialistische Zwischenkriegspolitiker Aloyse Kayser musste dem deutschen Romantiker Joseph Freiherr von Eichendorff weichen.
Damit sich Einwohner, Verwaltung und Besucher zurecht fanden, erschienen mehrere Stadtpläne mit den neuen Straßennamen. Ein farbiger STADTPLAN LUXEMBURG Herausgeber Gebr. FELLER, Luxemburg ohne Buchstabenraster ist nicht datiert, ein Exemplar im Privatbesitz trägt aber den handschriftlichen Vermerk „Luxemburg 1940“. Auszüge eines anderen, Ende 1942 erschienenen Stadtplans mit einem Raster druckt Guy May in Ons Stad Nummer 71 ab.
Dieser Plan war, so das Luxemburger Wort im Februar 1943, „soeben mit Genehmigung des Chefs der Zivilverwaltung und der zuständigen Wehrmachtdienststellen“ erschienen. Auf dem Plan sind beispielsweise die Rotunden hinter dem Bahnhof nicht eingezeichnet, möglicherweise auf Wunsch der zuständigen Wehrmachtdienststellen, um die dort untergestellten Lokomotiven vor Bombenangriffen zu schützen. Im selben Februar 1943 sollte die Wehrmacht vor Stalingrad kapitulieren.