Der Ausgang der vorgezogenen Wahlen am 20. Oktober ist offener als viele Wahlgänge zuvor. Deshalb wird gerne über Koalitionen mit der oder gegen die CSV, über eine sozialliberale Regierung und eine Ampelkoalition spekuliert. Allerdings wird dabei oft übersehen, dass viele politisch vorstellbare, viele erhoffte oder befürchtete Koalitionsmöglichkeiten schlicht unmöglich sind, weil sie nicht auf eine Mehrheit von mindestens 31 der 60 Abgeordnetenmandate kommen. Und in Zeiten friedlich bürgerlicher Verhältnisse wiegt die Arithmetik nun einmal schwerer als die politische Absicht.
Um hierzulande ungewohnte Koalitionen zu ermöglichen, sind sehr starke Verschiebungen bei den Wahlen nötig. Das hat weniger mit einem angeblich konservativen Volkscharakter zu tun als mit einem Verhältniswahlrecht, das strenger und damit demokratischer ist als beispielsweise in Frankreich oder Deutschland, wo nach dem Abba-Prinzip „The winner takes it all“ meist kleine Stimmengewinne genügen, um große Parlamentsmehrheiten zu erlangen. Trotzdem bevorteilen die kleinen Wahlbezirke und die Berechnung der Sitzverteilung samt Restsitzen auch in Luxemburg die größeren Parteien.
So sind die Koalitionen seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts vor einem Jahrhundert wenig abwechslungsreich. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das heißt seit dem Bestehen der Parteien in ihrer derzeitigen Form, regiert eine Partei, zwei andere lösen sich als Koalitionspartner ab:
1944 CSV + LSAP
1945 Regierung der nationalen Einheit
1948 CSV + DP
1951 CSV + LSAP
1954 CSV + LSAP
1959 CSV + DP
1964 CSV + LSAP
1968 CSV + DP
1974 LSAP + DP
1979 CSV + DP
1984 CSV + LSAP
1989 CSV + LSAP
1994 CSV + LSAP
Kurze Ausnahmen von diesem Schema waren die im Kalten Krieg schnell wieder beendete Regierung der nationalen Einheit aus CSV, LSAP, Liberalen und Kommunisten 1945 bis 1947 sowie die von der Wirtschaftskrise ebenso schnell beendete sozialliberale Koalition von 1974 bis 1979.
In den letzten 69 Jahren seit Kriegsende wurde das Land 64 Jahre lang von der CSV regiert, die das Rückgrat aller Koalitionen darstellt. Es ist diese fast ununterbrochene Regierungsbeteiligung, die den Verdacht einer über Jahrzehnte gewachsenen Verflechtung von Staat und Partei zu einem CSV-Staat aufkommen ließ. Wobei allerdings das geschlossene Koalitionssystem von CSV, LSAP und DP ein unverzichtbarer Bestandteil dieses CSV-Staats ist.
Der Grund für die ständige Regierungsbeteiligung der CSV ist selbstverständlich, dass die Rechtspartei und spätere CSV seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts stets die mit Abstand stärkste Partei war. Und es gibt das ungeschriebene Gesetz, dass der Großherzog stets der stärksten Partei den Auftrag erteilt, die Koalitionsmöglichkeiten zu erkunden und anschließend eine Regierung zu bilden – es sei denn, sie würde, wie nach der Niederlage von 1974, freiwillig darauf verzichten.
Diese Legitimation der von Wählern gewünschten Stärke gilt nicht nur für die CSV, sondern, wenn auch weniger streng, für die jeweils zweitstärkste Partei als Koalitionspartner. Zweimal war die LSAP zwar deutlich stärker als die DP, sie musste aber trotzdem in die Opposition: Die DP hatte nach ihrem Sieg 1959 auf das von der LSAP angebotene Amt des Regierungschefs einer sozialliberalen Koalition verzichtet und eine Rechtskoalition mit der CSV vorgezogen; nach ihrer Regierungskrise 1968 und vorgezogenen Wahlen konnten sich CSV und LSAP nicht mehr auf eine Fortsetzung ihrer Canapés-Politik einigen.
Da aller Voraussicht nach selbst eine am 20. Oktober möglicherweise deutlich geschwächte CSV noch immer mit Abstand die stärkste Partei bleiben wird, werfen diese Erfahrungen die Frage auf, wie über politische Gemeinsamkeiten und Unstimmigkeiten hinaus eine Koalition ohne CSV zustanden kommen würde – so wie sie von manchen sozialistischen und grünen Politikern befürwortet und von christlich-sozialen Politikern als Gefahr an die Wand gemalt wird. Fänden LSAP, DP und Grüne den Mut, eine Koalition gegen die CSV zu bilden, wenn die CSV nicht, wie 1974, auf das Recht des Stärkeren und eine Regierungsbeteiligung verzichtet? Gäbe der Großherzog trotzdem erst dem Spitzenkandidaten der CSV den Auftrag, eine Regierungsbildung zu erkunden oder gar vorzunehmen? Ließen ihn dann die drei anderen Parteien tatsächlich gemeinsam abblitzen?
Doch neben den drei abwechselnd miteinander koalierenden Parteien gab es in jeder Legislaturperiode auch Parteien und Abgeordnete, die aus politischen Ursachen zu jenem Zeitpunkt vom Macht-Oligopol von CSV, LSAP und DP nicht für koalitionsfähig gehalten wurden. Bis Mitte der Achtzigerjahre war das die als Ennemi im Kalten Krieg ausgeschlossene Kommunistische Partei Luxemburgs (KPL), jeweils eine oder zwei Legislaturperioden lang auch liberale Splitterparteien wie die Parti des indépendants de l’Est (PIE) und das Mouvement indépendant populaire (Mip) sowie sozialistische Splitterparteien wie die Sozialdemokratische Partei (SdP) und die von den Zwangsrekrutierten (EdF) unterstützte Parti socialiste indépendant (PSI):
1945 KPL, PIE 6 Sitze
1948/51 KPL, PIE 4 Sitze
1954 KPL 3 Sitze
1959 KPL 3 Sitze
1964 KPL, Mip 7 Sitze
1968 KPL 6 Sitze
1974 KPL, SdP 10 Sitze
1979 KPL, SdP, EdF, PSI 6 Sitze
1984 KPL, Grüne 4 Sitze
Doch in den Achtzigerjahre kamen neue Parteien auf, die heutigen Grünen und ADR, die nicht eine oder zwei Legislaturperioden lang, sondern anhaltend in der Kammer sitzen. Sie gehörten noch nie einer Regierung an, veränderten aber trotzdem schon das traditionelle Koalitionssystem. Denn durch diese neuen Parteien werden mittlerweile 20 Prozent der Sitze im Parlament von anderen Parteien als CSV, LSAP und DP eingenommen, doppelt so viele wie in den Jahrzehnten zuvor:
1989 KPL, Grüne, 5/6 9 Sitze
1994 Grüne, ADR 10 Sitze
1999 Grüne, ADR, Linke 13 Sitze
2004 Grüne, ADR 12 Sitze
2009 Grüne, ADR, Linke 12 Sitze
Noch nie, selbst als die Kommunisten Fraktionsstärke besaßen, waren so viele Mandate von Koalitionen ausgeschlossen, gingen so viele Mandate für das traditionelle Koalitionskarussell verloren. Dadurch ist es schwieriger geworden, eine Mehrheit von 31 Sitzen im Parlament zu erhalten. Selbst wenn CSV, LSAP und DP heute die Grünen für koalitionsfähig erklären, sind ihre Koalitionsmöglichkeiten eingeschränkt. Dies veranschaulicht die Entwicklung der Koalitionen, wie sie nach den vergangenen Wahlgängen rechnerisch möglich waren:
1974 CSV 18 + LSAP 17 = 35 Sitze; CSV 18 + DP 14 = 32 Sitze; LSAP 17 + DP 14 = 31 Sitze
1979 CSV 24 + LSAP 14 = 38 Sitze; CSV 24 + DP 15 = 39 Sitze (LSAP 14 + DP 15 = 29 Sitze)
1984 CSV 25 + LSAP 21 = 46 Sitze; CSV 25 + DP 14 = 39 Sitze (CSV 25 + Grüne 2 = 27 Sitze); LSAP 21 + DP 14 = 35 Sitze; LSAP 21 + DP 14 + Grüne 2 = 37 Sitze
1989 CSV 22 + LSAP 18 = 40 Sitze; CSV 22 + DP 11 = 33 Sitze (CSV 22 + Gréng 4 = 26 Sitze); (LSAP 18 + DP 11 = 29 Sitze); LSAP 18 + DP 11 + Grüne 4 = 33 Sitze; (LSAP 18 + Gréng 4 + Linke 1 = 23 Sitze)
1994 CSV 21 + LSAP 17 = 38 Sitze; CSV 21 + DP 12 = 33 Sitze (CSV 21 + Gréng 5 = 26 Sitze); (LSAP 17 + DP 12 = 29 Sitze); LSAP 17 + DP 12 + Grüne 5 = 34 Sitze; (LSAP 17 + Gréng 5 = 22 Sitze)
1999 CSV 19 + LSAP 13 = 32 Sitze; CSV 19 + DP 15 = 34 Sitze; (CSV 19 + Gréng 5 = 24 Sitze); (LSAP 13 + DP 15 = 28 Sitze); LSAP 13 + DP 15 + Grüne 5 = 33 Sitze; (LSAP 13 + Gréng 5 + Linke 1= 19 Sitze)
2004 CSV 24 + LSAP 14 = 38 Sitze; CSV 24 + DP 10 = 34 Sitze; CSV 24 + Gréng 7 = 31 Sitze; (LSAP 14 + DP 10 = 24 Sitze); LSAP 14 + DP 10 + Grüne 7 = 31 Sitze; (LSAP 14 + Gréng 7 = 21 Sitze);
2009 CSV 26 + LSAP 13 = 39 Sitze; CSV 26 + DP 9 = 35 Sitze; CSV 26 + Gréng 7 = 33 Sitze; (LSAP 13 + DP 9 = 22 Sitze); (LSAP 13 + DP 9 + Grüne 7 = 29 Sitze); (LSAP 13 + Gréng 7 + Linke 1 = 21 Sitze)
Unabhängig von aller politischen Tagträumerei sind in der Regel nach jeder Wahl drei, manchmal auch nur zwei Koalitionsmöglichkeiten realistisch. Die Schlüsselposition der CSV wurde dadurch gefestigt, dass es heute mehr Parteien im Parlament gibt: In der zu Ende gegangenen Legislaturperiode war keine Koalition ohne die überragende Wahlsiegerin CSV möglich. Das gilt sogar für die Legislaturperiode zuvor, wenn man davon ausgeht, dass eine Mehrheit von einem Mandat zu instabil für eine Koalition von drei Parteien wäre.
Eine Neuauflage der von vielen Sozialisten und manchen Liberalen noch immer nachgetrauerten sozialliberalen Koalition von 1974, der einzigen Regierung ohne CSV-Beteiligung seit Kriegsende, ist durch die anhaltende Schwäche von LSAP und DP seit langem nicht mehr möglich. Seit zwei Wahlgängen hat es selbst für eine Ampelkoalition von LSAP, DP und Grünen nicht mehr gereicht.
Wer von anderen Koalitionen träumte, musste das Ergebnis der Wählerbefragung, die TNS-Ilres im Frühjahr für das Tageblatt durchführte, wie eine kalte Dusche erlebt haben. Danach wären nämlich zur Zeit der Umfrage folgende drei Koalitionen möglich gewesen:
Frühjahr 2013 Umfrage: CSV 23 + LSAP 11 = 34 Sitze; CSV 23 + DP 11 = 34 Sitze; CSV 23 + Grüne 8 = 31 Sitze; (LSAP 11 + DP 11 = 22 Sitze); (LSAP 11 + DP 11 + Grüne 8 = 30 Sitze)
Laut dieser Umfrage wäre auch weiterhin eine Koalition ohne Beteiligung der CSV nicht möglich. Weder eine sozialliberale Koalition von LSAP und DP, noch eine Ampelkoalition von LSAP, DP und Grünen käme auf eine Mehrheit im Parlament, Letztere wäre höchstens auf die Duldung durch die Linke angewiesen. So erklärt sich möglicherweise die Zurückhaltung, mit der die DP die CSV und Premier Jean-Claude Juncker im Geheimdienstermittlungsausschuss und während des Sturzes der Regierung kritisierte.
Auch für die LSAP würde bestenfalls die Wahl zwischen Opposition und CSV bleiben. Nur dass sie es der Parteibasis und den Wählern nicht so klar sagen darf, um die schöne Aufbruchstimmung rund um Spitzenkandidat Etienne Schneider nicht zu vermiesen.
Mit einem Pyrrhussieg gingen die Wahlen für die Grünen aus. Denn wenn es laut Umfrage weder für eine stabile Mehrheit mit einer geschwächten CSV, noch mit einer ungenügend gestärkten LSAP und DP reichte, blieben sie trotz ihres Wahlsiegs von der Regierungsbildung ausgeschlossen.
Doch die letzte veröffentliche Wählerbefragung fand vor dem Mitte Juli erfolgten Sturz der Regierung statt. Die vorgezogenen Wahlen haben sicher einen Einfluss auf das Wahlergebnis: Nützt die Regierungskrise der Opposition? Setzt die CSV mit ihrer konservativen Wende auf das richtige Pferd? Kann sich die LSAP als erfolgreiche Oppositionspartei verkleiden? Weil der Wahlausgang nächsten Monat offener ist, als wenn erst im Mai nächsten Jahres gewählt würde, sind größere Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen den Parteien durchaus möglich. Nicht abzusehen ist, ob sie ausreichen würden, um neue Koalitionen nicht bloß politisch, sondern auch arithmetisch möglich zu machen.