Nein, die EU-Kommission erklärte am Mittwoch nicht, dass die EU ihr Klimaschutzziel verschärfen solle. Anders lautende Gerüchte
waren letzte Woche durch die europäische Presse gegangen. Le Monde titelte am vergangenen Freitag: „Bruxelles favorable
à une baisse de 30% des émissions“, und meinte, sollten die EU-Staaten der Ansicht der Kommission folgen, „ils donneraient
un vigoureux coup de pouce aux négociations climatiques internationales“. Immerhin beginnt am Montag in Bonn ein Klima-
Zwischengipfel, ehe im Dezember im mexikanischen Cancún ein weiteres großes Welt-Klimatreffen ansteht.
Aber derart politisch äußern wollte die Kommission sich am Ende nicht. Bislang reicht der Konsens unter den 27 Mitgliedstaaten nur so weit, bis zum Jahr 2020 die CO2-Emissionen um 20 Prozent gegenüber denen von 1990 zu senken. Alles Nähere regelt das 2008 verabschiedete Europäische Klima- und Energiepaket. Minus 30 Prozent werden nur versprochen, falls ein international verbindliches Abkommen das Ende 2012 auslaufende Kioto-Protokoll ersetzt, und schon beim missglückten Kopenhagener Klimagipfel vor einem halben Jahr endete der Versuch einiger Mitgliedstaaten, die Union auf die Schnelle auf das 30-Prozent-Ziel festzulegen, um die USA, Indien und China unter stärkeren Verhandlungsdruck setzen zu können, im Streit mit Italien, Polen und mehreren anderen osteuropäischen Mitgliedern.
Dass diese Fronten nach wie vor bestehen und überdies die europäische Schwerindustrie Druck gemacht hat, ahnt nicht, wer die Mitteilung liest, die die Kommission am Mittwoch publizierte. Sie wägt das volkswirtschaftliche Für und Wider eines unilateral erhöhten Reduktionsziel ab und empfiehlt die 30 Prozent sehr wohl. Dafür aber bekräftigte Klimakommissarin Connie Heedegard vor der Presse, die politischen Bedingungen, die die EU vor drei Jahren für die 30 Prozent gestellt hatte, seien „klar nicht erfüllt“, und sie fand, die anhaltende Krise sei vielleicht doch nicht der beste Zeitraum für erhöhte Anstrengungen zum Klimaschutz.
Was gut die derzeitige Zerrissenheit der EU in dieser Frage widerspiegelt. Denn in ihrem Papier rechnet die Kommission vor,
welche Emissionsrückgänge es durch die Wirtschaftskrise voraussichtlich gab. Dadurch sei das 20-Prozent-Ziel mit einem um rund ein Drittel kleineren Finanzaufwand zu erreichen als noch 2008 geschätzt. Und sie kalkuliert, minus 30 Prozent könnten bereits realisiert werden, wenn EU-weit bis 2020 elf Milliarden Euro mehr investiert würden als ursprünglich für minus 20 Prozent veranschlagt worden waren.
Das ist zwar viel Geld, doch im Gegenzug rechnet die Kommission nicht nur mit mehr „grünen Jobs“, verbesserter Energieversorgungssicherheit und natürlich einem größeren Schritt hin zu einer Emissionsreduktion um 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr 2050, die nötig sei, um die Erderwärmung nicht über zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit ansteigen zu lassen.
Das große Argument der Brüsseler Exekutive lautet: „Technologieführerschaft“. Bereits heute hätten die USA und China die
EU im Renewable Energy Attractiveness Index überrundet. Gebe die EU sich kein ehrgeizigeres Klimaschutzziel, drohe ihr technologischer Rückstand – und der wäre fatal, angesichts wieder steigender Energiepreise und Prognosen der Internationalen
Energieagentur, die bei der allmählich anziehenden Weltkonjunktur ab 2015 ernste Engpässe in der Ölversorgung kommen sieht.
Eine solche Sicht der Dinge ist auch der Industrie nicht fremd. Mitte Mai unterstützte eine Gruppe europäischer Großunternehmen die 30 Prozent. Bezeichnenderweise aber waren darunter Philips, Alstom oder die Deutsche Telekom. Dagegen beglückwünschte der Eisen- und Stahlherstellerverband Eurofer die Kommission nach Heedegards Auftritt für ihre „Rückkehr in
die Realität“. Aber die Prozentfrage betrifft emissionsintensive Branchen, wie die Metallurgie, nicht nur zukünftig. Krisenbedingt
sind unter den Betrieben, die dem Handel mit Emissionszertifikaten unterliegen, so viele ungenutzte Verschmutzungsrechte
in Umlauf, dass der CO2-Tonnenpreis derzeit 40 Prozent unter dem von Ende 2008 liegt. Die Kommission fürchtet, dass der Preis wegen des Zertifikate-Überhangs noch jahrelang niedrig bleibt und Low-carbon-Investionen dadurch relativ uninteressant
würden. Erhöhte die EU ihr Ziel auf 30 Prozent, wüchse die Zertifikatenachfrage künstlich mit. Dass die betroffenen Branchen
dagegen mobil machen, ist verständlich: Die Zertifikate sind bares Geld wert, und bei einmal ausgestandener Krise um so kostbarer.
Romain Hilgert
Catégories: L'Union, Politique économique
Édition: 27.05.2010