Am Abend des 10. Juli, nach der langen Chamber-Sitzung, und am darauffolgenden Morgen hörte man in Bistrots, in Bussen und vor Bankautomaten aufgeregte Menschen über den vermeintlichen Untergang Jean-Claude Junckers reden. Sätze wie: „Ouni de Juncker gi mir ënner“, reihten sich an Ausrufe der Erleichterung. Viele Menschen schienen auf neuen politischen Wind zu hoffen und dass nun nicht mehr „déi mam Juncker“ das Land vorantreiben, sondern auch endlich andere Parteien größere Chance auf den mehrheitlichen Wahlsieg haben könnten.
Anders als vielleicht erwartet war die CSV bestens vorbereitet auf vorgezogene Wahlen und startete den Wahlkampf schon am 11. Juli auf einem Grillfest, das jeden von Rang und Namen in der CSV vorführte und Neugierige anzog. Selbstsicher präsentierte sich Juncker erneut als Spitzenkandidat und zeigte wenig Reue für seine Nachlässigkeit in der Srel-Affäre. Auf dem Fest waren vor allem ältere Sympathisanten der Christlich-Sozialen zu sehen, aber es fiel doch auf, dass viele jüngere Menschen der konservativen Partei Rückendeckung gaben.
Unweigerlich stellt sich die Frage, ob Luxemburg einen politischen Wandel braucht, wodurch dieser erreicht werden kann und vor allem durch wen. Dass es Probleme gibt, ist selbst von den derbsten CSV-Anhängern nicht zu bestreiten. Die Wirtschafts- und Finanzlage Luxemburgs wird sich in den kommenden Jahren zusehends verschlechtern, das Schulsystem wird den demografischen Anforderungen nicht gerecht und die Arbeitslosenzahlen steigen stetig. Die Zukunft Luxemburgs sollte allerdings weniger von einzelnen Parteien, noch von glorifizierten Personen abhängen. Die logische Konsequenz der Zukunftsvision ist vielmehr die Jugend. Nachwuchspolitiker, Jungwähler, politisch engagierte Studenten und junge Berufstätige müssen nach dem Aussterben der Altherrenpolitik, die vor allem auf Sicherheit setzt, dafür sorgen, dass es dynamisch und zeitgemäß mit Luxemburg voran geht. Konkret bedeutet das, sich nicht nur im politischen Meer mittreiben zu lassen, sondern selbst am öffentlichen Diskurs teilzunehmen und seiner Verantwortung als mündiger Bürger nachzukommen.
Soziale Medien wie Twitter, Facebook und Blogs bieten dem Politik-affinen Bürger durchaus Möglichkeiten, seine Meinungen bekannt zu geben. Neben dem zunehmenden Qualitätsjournalismus, den Luxemburg langsam, aber sicher für sich entdeckt, machen vor allem junge Menschen vom Internet Gebrauch, um ihre politischen Meinungen auszudrücken. Auf Twitter zum Beispiel wird innerparteilich miteinander diskutiert und Gedanken über die Neuwahlen werden mitgeteilt. Noch während der Chamber-Sitzung am 10. Juli konferierten Twitter-User stundenlang und detailliert über die Ereignisse am Krautmarkt, tauschten sich mit Journalisten und sogar mit Abgeordneten aus, die vor Ort waren.
Wenn der klassische politische Aktivismus seine Blütezeit in den 1960-er und 70-er Jahren hatte, so erleben die Social media nun ihre ganz eigene Hochkultur. Die deutsche Journalistin Hannah Beitzer erläutert das Phänomen der Internetkultur in ihrem Sachbuch Wir wollen nicht unsere Eltern wählen. Darin erklärt die Autorin, warum man die Heranwachsenden von heute ernst nehmen sollte, die Jugend, die ein ganz eigenes Engagement und politisches Wissen an den Tag legt. Parteilos und post-ideologisch, so Beitzer, sei auch die Jugend von heute politisch interessiert und aktiv, nur eben anders. Was sie in ihrem Werk ebenfalls anspricht, ist der Pragmatismus der Jungen – eine Erscheinung, die man auch in Luxemburg oft beobachten kann.
Was Beitzer als „Post-Ideologie“ bezeichnet und als durchaus positiv wertet, trägt meiner Ansicht nach aber zu einer mehr und mehr apolitischen und apathischen Jugend bei. Post-ideologisch zu denken, also keine Standpunkte oder Ideale zu haben, keine bedeutungsvollere politische Weltanschauung zu hegen, bedeutet sich tatsächlich aus der politischen Realität heraus zu halten und sich wie das sprichwörtliche Fähnchen im Wind treiben zu lassen. Immer öfter schließen sich junge Menschen, häufig auch Studierende, der so genannten Anti-Kultur an. Sie sind gegen jede politische Institution und Richtung und haben scheinbar den Glauben an das politische System an sich und an die Möglichkeit zur Veränderung verloren. Das ist eine gefährliche Entwicklung, denn vor allem in Zeiten zunehmender rechtsradikaler Ideologien und der wachsenden Macht der Finanzmärkte über Bürger, um nur zwei globale Gefahren zu nennen, kommt man als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft nicht ohne Meinungen und Weltanschauungen aus. Es reicht demnach nicht, lediglich gegen politische Autoritäten zu sticheln. Die öffentlich-politische Sphäre ist abhängig von autonom denkenden Individuen, die den Diskurs zwischen Bürgern und Politikern vorantreiben. Die Bewegung Occupy Wall Street hat zum Beispiel dazu beigetragen, dass der Neoliberalismus in seiner aktuellen Form mit seinen politischen und sozialen Konsequenzen in der Öffentlichkeit thematisiert und diskutiert wurde. Die Anhänger dieser Bewegung hätten sich ohne eigene Ideologie und Weltvorstellung keineswegs so engagiert und bemüht, wie sie es getan haben.
Als junger Mensch, der sich für Politik interessiert, beklagt man in diesem Sinne oft das heiter-freundliche Klima unter Heranwachsenden in Luxemburg. Sorglos und zufrieden scheinen die meisten Studenten ihre Bourse auszugeben und beschäftigen sich mit Politik nur, wenn es um ihre eigene Haut geht. So werden auch die Uninteressiertesten wach, wenn Grenzpendlerkinder ebenfalls Studienbeihilfen bekommen sollen. Aussagen wie: „Éischt huelen se eisen Elteren d’Aarbechtsplazen ewech, an elo och nach eis d’Bourse!“, ertönen aus dem Café, ohne dass sich die meisten bewusst sind, dass die Frontaliers erheblich zu unserem hohen BIP beitragen und in Luxemburg Steuern zahlen.
In Luxemburg wird man das Gefühl nicht los, dass es vielen von uns „zu“ gut geht. Der kräftige Wohlstand, von dem wir alle, auch die Autorin dieses Artikels, profitieren, lähmt möglicherweise die Fähigkeit zum Altruismus und fördert politischen Pragmatismus. Es sich gut gehen zu lassen, scheint oft wichtiger zu sein als sich über das politische Schicksal seines Umfelds Gedanken zu machen. Und wenn sogar ein Spitzenkandidat wie Etienne Schneider auf einer Diplomfeier den angehenden Studenten rät, bei der Wahl ihrer Universität auf die Bierpreise zu achten, dann scheinen höhere politische Werte und Vorstellungen nicht nahe zu liegen. „Deen do uewe mécht dat schon“, und damit ist nicht der Herrgott, sondern Jean-Claude Juncker gemeint.
Bevor wir verzweifeln, ist es wichtig, einzuwenden, dass es durchaus auch in Luxemburg möglich ist, politisch aktiv zu sein – auch ohne sich einer bestimmten Partei anzuschließen. Und dass es junge Menschen gibt, die diese Möglichkeit wahrnehmen. So haben beispielsweise die drei Studenten Max Gindt, Rick Mertens und Xavier Muller kurzfristig bei Radio Ara vier Sendungen vorbereitet, die sich De Wahlbureau nennen. Während vier Wochen werden jeweils zwei junge Kandidaten von verschiedenen Parteien zu diversen Themen befragt. Das Ziel ist, die verschiedenen Parteien vorzustellen und konstruktive Diskussionen anzuregen, auch auf Twitter und Facebook. Vor allem aber wollen die drei Studenten junge Kandidaten befragen, statt auf altbekannte Gesichter zu setzen.
Um die Stimmung unter jungen Menschen widerzuspiegeln und zu zeigen, dass das politische Geschehen doch nicht jedem egal ist, habe ich verschiedene junge Menschen zur Aktualität befragt und sie gebeten, mir etwas über die Rolle und Möglichkeit von politischem Aktivismus zu erzählen. So haben gleich zwei Blogger mir von ihren Ansichten berichtet. Joël, der auf www.joeladami.net schreibt, und Maika, deren Blog man auf www.stiermchen.wordpress.com findet. Joël, der gelegentlich auch über die Aktualität in Luxemburg schreibt, bedauert unter anderem, dass es an neuen, innovativen Ideen mangelt: „Et ass schwéier, sech als Jonken ze etab-léieren an der Politik, et gëtt vill op de Persounekult gesat, wéi ee jo och elo erëm beim CSV-Slogan ka gesinn“, so der Student über ein Thema, das auch in der Sendung De Wahlbureau aufkommen sollte.
Maika, eine junge politikinteressierte Frau meint unterdessen: „Ech hu mäi Blog ënner anerem och, fir politesch eppes bäizedroen. Mä aus enger net affiliéierter Perspektive, vu dass dat mir erlaabt, eng onageschränkt Kritik ze üben.“
Es ist möglich, sich politisch zu engagieren, in welcher Form auch immer, wenn man denn nur will. Auch wenn man dort nicht immer in direkten Kontakt mit Politikern kommt, so bietet das Internet eine große Diskussionsplattform. Auch über „konservativere“ Medien können junge Menschen sich mitteilen, wie das Radio Ara-Projekt zeigt. Des weiteren meint der junge, berufstätige Chris: „Wat kann ee selwer maachen, dass et anescht leeft? Deelhuelen. An domat mengen ech net, sech op eng Lëscht setzen, mä sech an de Gemengerot sëtze goen. Op Biergerversammlungen onangenehm Froe stellen. Lieserbréiwer schreiwen., etc., etc.“
Ich schließe mich Chris an und möchte an dieser Stelle an ein Zitat von Max Frisch erinnern: „Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: er dient der herrschenden Partei.“ Um für politischen Wandel und für politische Vielfalt zu sorgen, ist es unabdingbar, sich mit Politik zu befassen und an ihr teilzunehmen. Junge Menschen sollten deshalb Mut zum Aktivismus haben, sich für ihre Weltanschauungen einsetzen und es sich in ihrem Nest nicht zu bequem machen. Ob man nun einer Partei beitreten will oder einer politischen Organisation, ob man sich mit Freunden austauscht oder einen Blog hat, wichtig ist Teilnahme und Verantwortung. Zu dieser Verantwortung gehört auch, nicht unbedingt die Partei zu wählen, die den höchsten Lohn und die fettesten Renten verspricht. Es gilt, sich von diesem eigennützigen Pragmatismus zu entfernen.
Man könnte endlos darüber streiten, ob es nun an politischem Unterricht in Schulen mangelt – sicher ein guter Anfang –, oder ob unsere Wohlstandsgesellschaft an mangelndem politischem Interesse Schuld ist. Fest steht, dass jeder einzelne sich die Frage stellen sollte, in welcher politischen Welt er oder sie leben will. Damit die Welt für alle erträglicher wird, nicht nur für Wohlhabende, muss jeder sich seiner persönlichen Verantwortung bewusst werden. Und diese im Idealfall wahrnehmen. Die Jugendarbeitslosenrate liegt in Luxemburg bei fast 20 Prozent, Tendenz steigend. Diese Generation ist nicht mehr jene, die es sich leisten kann, Studienplätze nach Bierpreisen zu wählen. Wenn die Wirtschaft künftig auch in dem kleinen luxemburgischen Paradies nicht mehr floriert wie bisher, spätestens dann wird selbst den Teilnahmslosesten klar, dass niemand sich die Bequemlichkeit der Apathie leisten kann.