Akkurat angeordnete bizarre Souvenirartikel zieren seit neuestem die Vitrine des ehemaligen Zeitungs-kiosks an der Place de Bruxelles in Luxemburg-Stadt. Sie lassen vermuten, dass diese seit einigen Jahren als Spielstätte für Kunst im öffentlichen Raum genutzte Architektur ihrer ehemaligen Aufgabe wieder treu geworden ist und man dort wieder Andenken und Mitbringsel in allen Variationen und Formen kaufen kann. Denn vom Teller bis zur Tasse, vom Aufnäher bis hin zu den Flip-Flops: alles scheint vorhanden.
Auf Einladung von Sabine Dorscheid entführt uns die luxemburgische Künstlerin Justine Blau hier mit ihrer Installation Schengenland in eine fiktive und doch sehr reale Welt, die sich rund um den Mythos um das Winzerdorf Schengen und das dort am 14. Juni 1985 unterzeichnete Abkommen dreht.
Ausgangspunkt für Blaus Installation war eine Anekdote, die ihr Vater, der Reiseführer bei der Stadt Luxemburg ist, ihr erzählt hat. Demnach sei Schengen der Ort in Luxemburg, den die meisten, vorwiegend außereuropäischen Touristen bei ihrem Besuch im Großherzogtum besichtigen wollen. Das brachte Justine Blau dazu, sich mit dem Mythos um diesen, für die meisten doch sehr unscheinbaren Ort zu beschäftigen. Denn durch das Schengener Abkommen und das gleichnamige Visum gelangte das kleine Dorf in die Geschichtsbücher und wurde für viele Nicht-Europäer zur Projektionsfläche für Sehnsuchts- und Freiheitsfantasien. Der freie Verkehr von Personen, Gütern und Dienstleistungen sowie die Aufhebung der Grenzkon-trollen zwischen den Schengen-Staaten führt zu einer Mystifizierung, die Schengen wie das gelobte Land erscheinen lässt.
Justine Blau stellt in ihrer Installation unsere Vorstellung vom Fremden, die Suche nach dem Paradies, nach dem idealen Ort in Frage. Das Verlangen vieler Europäer nach außergewöhnlichen, weit entfernten Ländern, nach Exotik und Ruhe wird hier umgekehrt und hinterfragt. Denn der Ort, der für die Luxemburger und Europäer im Allgemeinen zum Alltäglichen, zum Banalen gehört, bedeutet für viele Menschen das Paradies, den absoluten Wunschwohnort. Justine Blau unterstreicht hier, dass das Ideale im Auge des Betrachters liegt und die Sehnsucht nach etwas Fremdem oft über die Realität hinwegtäuscht. Bestes Beispiel hierfür scheinen aktuelle Geschehnisse wie die Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Dänemark zu sein, die an der scheinbar perfekten Fassade zu kratzen scheinen und Schatten auf das scheinbar idyllische Europa werfen. Dennoch bleibt Eu-ropa für viele Menschen der Inbegriff von Lebens- und Wohnqualität, von sozialer Sicherheit und Frieden. So bleibt auch das Schengenvisum die ultimative Hürde, die zu überwinden ist, um zu einem besseren Leben zu gelangen. Eine Tatsache, die den wenigsten Luxemburgern bewusst sein dürfte.
Blau überspitzt in ihrer Arbeit den Gedanken an den Sehnsuchtort Schengen, indem sie ihn auf ironische Weise materialisiert. Der Titel Schengenland spielt an Freizeit- und Vergnügungsparks an. In Anlehnung an die heraldischen Güter aus dem 18. Jahrhundert hat sie Tassen und Teller, die übrigens bereits damals vorüberwiegend in China produziert wurden, mit Wappen verziert, die den Ort Schengen symbolisieren sollen. Jedes der dargestellten Symbole steht in Verbindung mit den ideologischen Ambitionen des Schengener Abkommens und könnte durchaus als Wappenzeichen fungieren.
Die Flip-Flops mit der Aufschrift „Schengen“ deuten die Bewegungsfreiheit an. Der Schengenvisa-Aufnäher impliziert – in Anlehnung an die Wappen der Pfadfinder –, ausgezeichnet zu werden, wenn man es dann hinein ins gelobte Land geschafft hat. Am symbolträchtigsten scheinen jedoch die drei Teller im vorderen Schaufenster: „Pax, Harmonia et Liberta“ steht hier in der Typologie des Schengenvisums geschrieben. „Begriffe“, so die Künstlerin, „die vermehrt im Diskurs um den Mythos Schengen fallen.“
Justine Blau weiß sehr genau die Architektur des Kioskgebäudes und dessen Standort an einem zentralen Knotenpunkt für Autofahrer, Fahrradfahrer und Fußgänger zu nutzen und bietet jedem die Gelegenheit, sich mit der Geschichte Europas und somit mit einem Teil der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Auch wenn die präsentierten getürkten Souvenirs bei weitgereisten Touristen wohl für weniger Verwirrung sorgen werden, so ist die Irritation bei den luxemburgischen und europäischen Beobachtern zumindest gesichert. Justine Blau verbindet optimal die Geschichte des Gebäudes mit seiner aktuellen Funktion. Denn einerseits erinnert sie an die Ursprungsfunk-tion des Kiosks, andererseits ruft die Anordnung der touristischen Artefakte die Erinnerungen an die Wunderkammer der Spätrenaissance und des Barocks zurück, die als Ursprung des heutigen Museums gelten.