„Die Regierung ist auf den Hochgeschwindigkeitszug der Steuertransparenz aufgesprungen, der nun unterwegs ist“, hatte Finanzminister Pierre Gramegna (DP), ganz der geschmeidige Diplomat, im April der Financial Times im Video-Interview erzählt. Als EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager am Mittwoch erklärte, das Ruling für Fiat Finance and Trade (FFT) der Luxemburger Steuerverwaltung aus dem Jahre 2012 stelle in den Augen der Kommission eine illegale Staatsbeihilfe dar, und Luxemburg aufforderte, von FFT 20 bis 30 Millionen Euro nachzufordern, sah es eher aus, als ob Pierre Gramegna vom Hochgeschwindigkeitszug überfahren worden sei. Mit Todesverachtung twitterte er noch während Vestager in Brüssel sprach: „Luxembourg disagrees with the conclusions reached by the European Commission in the Fiat Finance and Trade case and reserves all its rights.“
Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, waren Beobachter nicht nur überrascht, dass Gramegna via Sozialnetzwerk reagierte. Auch der Ton und die Geschwindigkeit seiner Reaktion schienen recht impulsiv. Vestager ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Vielleicht sehen wir uns vor Gericht“, stellte sie nüchtern fest. Indem die Kommission die Steuerverwaltung zwingt, bei Fiat rund 25 Millionen Euro für die Jahre 2012, 2013 und 2014 einzutreiben, hat sie Luxemburg genau da, wo sie das Land hinhaben will: in der Mangel.
Angesichts der Abermilliarden an Steuern, die multinationale Konzerne ungerechterweise nicht bezahlt haben sollen – das entging auch den Brüsseler Journalisten nicht, die darüber berichtet hatten –, sind die von FFT und der amerikanischen Kaffeehauskette Starbucks nachgeforderten Summen vergleichsweise bescheiden. Margrethe Vestager meinte dazu am Mittwoch, „spektakuläre Summen“ seien „hier nicht die Botschaft“. Es gehe ums Prinzip. „Die Botschaft ist, dass Steuerverwaltungen keine Transferpreise gutheißen können, die artifiziell oder ohne Bezug zur Realität sind.“ Weil aber nach der Berechnungsmethode der Kommission die Steuerrechnung für den Fiatkonzern ingesamt geringer ausfallen könnte, geht es wohl nicht wirklich darum, ob multinationale Konzerne ihren fairen Beitrag leisten. Steuerexperten ist es ein Rätsel, warum die Kommission ausgerechnet dieses vergleichsweise „gute“ Ruling ausgesucht hat, wenn so viele schlechte zur Verfügung stünden. Die Frage ist deshalb auch, ob sich die Kommission unter ihrem Vorsitzenden Jean-Claude Juncker erlauben konnte, die Untersuchung gegen Fiat fallen und Luxemburg vom Haken zu lassen, ohne dass man ihr Interessenkonflikte vorgeworfen hätte. Umso wichtiger ist die Signalwirkung.
Finanzierungsgesellschaften wie Fiat, davon befinden sich einige in den Luxleaks-Akten, werden „die Botschaft“ wohl so interpretieren: Dass es auch mit dem Stempel der Steuerverwaltung keine Rechtssicherheit über die steuerliche Behandlung ihrer Aktivitäten geben kann, wenn die Kommission die Waffe der Staatsbeihilfe-Untersuchungen zücken und dadurch zehn Jahre zurück in die Vergangenheit ermitteln und enorme Rückzahlungen fordern kann. Da hilft es auch nichts, wenn die Kommissarin betont, dass „Rulings an sich“ nicht problematisch sind.
Dass es ausgerechnet Fiat Finance and Trade, mittlerweile Fiat Chrysler Finance Europe, trifft, ist unglücklich. Denn diese Zentralisierung der Finanzaktivitäten großer Konzerne, um die es hier geht, waren laut ehemaligem Finanzminister Luc Frieden (CSV) eine der Möglichkeiten, den Finanzplatz nach der Abschaffung des Bankgeheimnisses zu diversifizieren. Und: um „Substanz“ in die Luxemburger Holdings zu verlegen, eine reelle Aktivität. Die Treasury-Aktivitäten passten gut zur Luxemburger Börse, an denen Unternehmensanleihen gehandelt werden, so die Überlegung.
So ging auch FFT vor. Statt dass alle Fiat-Filialen sich um ihre eigene Finanzierung kümmerten, lieh FFT en bloc über Anleihen an den Kapitalmärkten oder bei Banken Geld, das sie dann an die Filialen weiterverlieh. Hatten diese Bargeld übrig, ging es an FFT, die sich darum kümmerte, die Gelder gewinnbringend anzulegen. Die Struktur, die im Ruling abgesegnet wurde, sei deshalb nicht besonders komplex, „noch nicht mal ein Hybrid“, wie sich Steuerberater entrüsten, und mit Steuerverwaltungen der anderen Fiat-Firmen abgeglichen. Sie sei demnach kein Konstrukt zur Nichtbesteuerung. Das von KPMG vorbereitete Ruling, das sagen auch Konkurrenten, sei gut dokumentiert gewesen und Transferpreise seien wirklich keine exakte Wissenschaft.
Bestehen Zweifel an diesem Ruling; daran, was die Regeln zur Berechnung von Transferpreisen sind, daran dass, wenn die Steuerverwaltung ein Ruling abstempelt, es auch gilt, dann bestehen Zweifel daran, ob es für Konzerne überhaupt noch interessant ist, ihre Treasury-Aktivitäten in Luxemburg zu zentralisieren. Hinzu kommt, dass ohnehin weniger Rulings bei der Luxemburger Steuerverwaltung beantragt werden, weil die neue Ruling-Kommission deutlich langsamer arbeitet und, darüber beschwerten sich die Steuerberater auch schon beim Direktor der Steuerverwaltung Guy Heintz (d’Land, 10. Oktober), nicht klar argumentiere, warum sie ein Ruling ablehne. Gebe es aber keine klaren Anweisungen, berichten die Steuerberater, wanderten die Kunden ab, statt die „Substanz“ in Luxemburg auszubauen.
Damit droht das Ruling zum Auslaufmodell zu werden, und daran kann auch ein Berufungsverfahren gegen die Fiat-Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof nicht viel ändern, sogar falls Luxemburg am Ende eines jahrelangen Verfahrens gewinnen würde. Bis dahin wärend die Firmen längst abgewandert.
Das absurdeste an dieser Situation ist, dass das Exempel an einem europäischen Industriekonzern statuiert wird, während die USA mit ihren Steuervorkehrungen amerikanischen Konzernen helfen, europäische Märkte zu erobern. Zumal der Fall nicht auf die mutige Tat eines Whistleblowers zurückgeht, sondern darauf, dass die Luxemburger Behörden, als sie der EU-Kommission auf deren Nachfrage hin im Januar 2014 22 anonymisierte Rulings schickten, versehentlich das „FFT“ für Fiat Finance and Trade an einer Stelle stehen ließen...
Ob also die Regierung die Situation richtig einschätzte, als sie entschied, auf den Hochgeschwindigkeitszug der Transparenz aufzuspringen? Mit der Haushaltsvorstellung vergangenen Herbst, noch vor Luxleaks, hatte die blau-rot-grüne Regierung versucht, das Problem der Rulings diskret anzugehen, indem sie, unter mehreren hundert Sparmaßnahmen des Zukunftspak versteckt, einen Artikel einschob, der die Steuervorbescheide überhaupt erst in die Luxemburger Gesetzgebung einführte. Eine Maßnahme, die Pierre Gramegna nach den Luxleaks-Enthüllungen als preemptive strike zu verkaufen versuchte. Man habe nicht auf Luxleaks gewartet, um zu handeln, erklärte er nach dem Medienskandal immer wieder. Das war auch eine Abrechnung der neuen mit der alten Regierung, die über den Geheimdienst gestolpert war. Anders als die CSV-Minister, sollten Steuerzahler in Luxemburg und rund um den Globus glauben, habe die liberal geführte Koalition keine schmutzigen Geheimnisse und nichts zu verstecken.
Dabei handelte es sich auch hierbei schon um ein Rückzugsgefecht. Denn dass Luxemburg reagierte, lag daran, dass die EU-Kommission bereits seit Juni 2014 im Fall FFT ermittelte. Deshalb führte die Regierung mit dem Haushaltsgesetz 2015 nicht nur die Steuervorbescheide ins Luxemburger Recht ein, sondern auch einen neuen Artikel 56 in die Abgabenordnung, um die internationalen Standards in Sachen Transferpreise umzusetzen, welche die Kommission bei der Fiat-Untersuchung unter die Lupe nahm.
Aber nach dem Luxleaks-Debakel interessierte es niemanden, dass Luxemburg sich um Transparenz bemühte und sich eine Woche zuvor verpflichtet hatte, die neuen OECD-Steuerstandards für Privatpersonen frühzeitig umzusetzen. Dann waren alle Mittel recht, um das lädierte Image Luxemburgs aufzubessern. Panikartig und ohne Absprache mit irgendwem versprach Pierre Gramegna seinem belgischen Amtskollegen Ende 2014, alle Rulings mit Bezug auf Belgien auszuhändigen. Dann zog er die Klage gegen die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof zurück, mit der Luxemburg versucht hatte zu verhindern, dass die Wettbewerbsbehörden sich Zugang zu weiteren Informationen über Fiat verschaffen könnten. In der gleichen Logik übermittelte Luxemburg der EU-Kommission eine Liste aller Firmen, die einen Steuervorbescheid erhalten hatten, obwohl andere Länder, darunter Deutschland, sich als gar nicht so eifrig erwiesen. Die Nation-Branding-Bemühungen wurden intensiviert und die Luxemburger EU-Ratspräsidentschaft machte die Steuerfragen zur Priorität. Vor zwei Wochen konnte der Luxemburger Finanzminister in Luxemburg verkünden, dass sich die EU-Länder unter seinem Vorsitz auf den automatischen Austausch von Rulings geeinigt hätten.
Das Problem ist erstens, dass diese ganzen Bemühungen, Luxemburgs Weste rein zu waschen, ohnehin nicht viel bringen. Das belegen nicht zuletzt die Fragen, welche die in Brüssel versammelten internationalen Journalisten der Kommissarin stellten. Ob die Kommission nun endlich zugebe, dass Luxemburg, dieses Land mit 400 000 bis 500 000 Einwohnern, ein Steuerparadies sei? Ob Luxemburg nicht eine Strafe zahlen müsste? Ob die Steuermillionen, die Fiat nachzahlen müsse, nicht an andere Länder verteilt werden müssten? Wo Jean-Claude Juncker gewesen sei, als die Kommission die Fiat-Entscheidung annahm (bei einer Preisüberreichung in Madrid...)? Zweitens waren diese Bestrebungen umsonst, falls Luxemburg, wie vom liberalen Fraktionschef und Vorsitzenden der Finanzkommission Eugène Berger gefordert, Einspruch vor dem Europäischen Gerichtshof einlegt. Denn das wäre in den Augen jener, die Luxemburg ohnehin für ein Steuerparadies halten, nur die Bestätigung dessen, was sie schon immer wussten.