Die Wortschöpfung der Woche heißt „Präsentismus“. Sie kommt von der Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) und ist das Gegenteil von Absentismus. Spektakulär ist sie, weil die IGSS nach einer Befragung von 17 461 im Privatsektor lohnabhängig Beschäftigten festgestellt hat, dass 62 Prozent von ihnen arbeiten gingen, obwohl sie krank waren. Mehr als die Hälfte tat das über die gesamte Krankheitsdauer hinweg. Legt man die 62 Prozent nur auf die Befragten um, die krank waren, dann waren von ihnen 85 Prozent ganz oder teilweise „präsent“ am Arbeitsplatz.
Die Studie ist nur ein erster Befund zu diesem Phänomen. Er ist auch nicht ganz abgesichert, weil er nur auf einer Befragung basiert und nicht auf Verwaltungsdaten: Wer trotz Erkrankung arbeiten geht, wird nun mal nicht zentral erfasst. Alarmierend ist der Befund trotzdem: Als die Einführung des Einheitsstatuts im Privatsektor diskutiert wurde, die die allgemeine Lohnfortzahlung durch den Betrieb bis zum 77. Krankheitstag einführen sollte, setzten die Patronatsverbände eine Propagandamaschinerie in Gang. Um politische Zugeständnisse zu erhalten, stellten sie ihre Mitarbeiter als potenzielle Blaumacher unter Generalverdacht. Die damalige Regierung machte das Spiel gezwungenermaßen mit. Die CNS setzte eine Zeitlang kafkaeske Kontrollen in Kraft, die Krankgeschriebene verpflichteten, ihr vorab mitzuteilen, wann sie überlebensnotwendige Einkäufe zu tätigen gedächten oder sich in ein Restaurant begeben würden, falls die Zubereitung einer Mahlzeit sie überforderte. Nun sieht es so aus, als werde die Bettruhe vor allem vernachlässigt, um arbeiten zu gehen.
Und nicht nur die politische Aufregung um den Absentismus erscheint in neuem Licht, sondern auch die Statistiken zum Krankenstand: Zwischen 2009 und 2013 nahm das Verhältnis der Tage im Krankenschein zu den in Arbeit verbrachten Tagen von 3,3 Prozent auf 3,7 Prozent zu. Manche Unternehmerverbände erkannten darin zunehmenden „Krankenschein-Missbrauch“, die Gewerkschaften und auch die IGSS eher ein Indiz für im Zuge der Krise verschlechterte Arbeitsbedingungen, die zu mehr Krankschreibungen führen würden. Denn nur der Langzeitkrankenstand von mehr als 21 Tagen nimmt zu, der Kurzzeitkrankenstand stagniert.
Diese Vermutung erhärtet sich nun: Bei leichten Erkrankungen ist die „présence totale“ am Arbeitsplatz mit 42 Prozent am höchsten. Doch selbst von länger als 16 Tage anhaltenden Erkrankungen Betroffene bleiben nur zu 15 Prozent der Arbeit ganz fern. Und sogar im Falle von „maladies les plus incapacitantes“ liegt die „présence totale“ bei 35 Prozent. Ausschlaggebend für die Entscheidung, präsent zu sein, ist der Befragung zufolge in erster Linie die Angst vor Jobverlust und anschließend langer Arbeitslosigkeit sowie das Wissen darum, wie oft man schon krank war. Weshalb viele länger Erkrankte wenigstens ab und zu auf Arbeit erscheinen.
Die Zahlen sind nicht nur aus der Sicht der öffentlichen Gesundheit beunruhigend.Sie sind es auch, weil nachgewiesen ist, dass Präsentismus eine Volkswirtschaft, aber auch den einzelnen Betrieb, jedenfalls auf längere Sicht, mehr kostet als Absentismus und damit verbundene kurzfristige organisatorische Probleme. Fragt sich nur, wie eine Politik aussehen kann, die sich, wie die IGSS hofft, „nicht nur auf die Produktivität der Betriebe beschränkt“. Eigentlich sollen die Betriebe sich über ihre Krankengeld-Mutualität und die Beitragssätze zu ihr selber Anreize zur Senkung des Krankenstands setzen – nicht zuletzt durch verbesserte Arbeitsbedingungen. Nun jedoch kann man endgültig daran zweifeln, dass die Mutualität diese Rolle spielt, weshalb auch immer. Trifft das zu, dürfte es mit kleinen Änderungen am bestehenden System vermutlich nicht getan sein.