„Eine Person, die 4 000 Euro monatlich verdient, zahlt 120 Euro weniger Steuern“, freute sich Finanzminister Pierre Gramegna am Mittwochnachmittag zum Schluss der parlamentarischen Debatten über die Steuerreform. Was er nicht sagte: dass diese Person eine einheimische ist.
Die in Lothringen wohnende Madame A. verdient 4 166 Euro monatlich in Luxemburg, ihr Gatte Monsieur B. 1 666 Euro in Frankreich. Madame A. zahlt derzeit 286 Euro Steuern. Durch die mit 32 Stimmen der Regierungsmehrheit gegen 28 Stimmen der Opposition verabschiedete Steuerreform sollen es in einem Jahr 493 Euro sein.
Arbeitet Madame A. in Teilzeit und verdient 3 166 Euro in Luxemburg sowie 1 000 Euro in Frankreich bei unveränderten Einkommensverhältnissen ihres Mannes, zahlt sie heute 132 Euro Steuern monatlich, ab 2018 aber das Dreifache, 423 Euro. So ein weiteres Rechenbeispiel im Gutachten der Salariatskammer zur Steuerreform. Hat sich das Ehepaar eine Wohnung zusammengespart, die es für monatlich 1 000 Euro vermietet, bekommt Madame A. zum Jahresende 2018 eine von 8 286 Euro auf 10 665 Euro erhöhte Steuerabrechnung.
Die am 1. Januar in Kraft tretende Steuerreform stehe auch „im Zeichen der Gleichstellung von Einheimischen und Grenzpendlern“, freute sich Berichterstatterin Joëlle Elvinger (DP). Die Grenzpendler hätten nämlich nächstes Jahr Zeit, ihre Einkommensverhältnisse mitzuteilen, damit das Steueramt „einen effektiven Steuersatz ermitteln könne, der dann 2018 greift“, so dass „Transparenz und Gerechtigkeit“ walten könnten.
Eigentlich sollte mit der Steuerreform ab übernächstem Jahr die von Frauenorganisationen seit Jahren erhobene Forderung nach einem Recht auf die individuelle Besteuerung von Ehepartnern erfüllt werden. In Wirklichkeit wird eine optionale Scheinindividualisierung für Einheimische eingeführt, da die Steuerverwaltung lediglich einen mittleren Steuersatz auf der Lohnsteuer errechnet, beziehungsweise Ehepartner, die eine Steuererklärung einreichen, jeweils auf der Hälfte des Haushaltseinkommens besteuert werden. Weil das Ergebnis eher symbolisch sein wird, wurde bereits die Frage nach dem praktischen Nutzen dieser Neuerung erhoben. Aber vielleicht war der Beschluss, die Individualbesteuerung von Ehepaaren als Ausnahme zu erlauben, nur der Vorwand, um den Spieß umzudrehen und die gemeinsame Veranlagung von Grenzpendlern zur Ausnahme zu machen.
Derzeit werden über 95 000 hierzulande arbeitende Grenzpendler in der Steuerklasse 2 mit gemeinsamer Veranlagung von Verheirateten und Ehegattensplitting besteuert, wenn sie über 50 Prozent des gesamten Haushaltseinkommens in Luxemburg verdienen. Weitere 46 410, darunter auch Verheiratete, die hierzulande weniger als 50 Prozent ihres Einkommens verdienen, in der Steuerklasse 1A. Aber 2018 sollen verheiratete Grenzpendler in die Steuerklasse 1 für Junggesellen eingestuft werden. Ehepaare, von denen ein Partner mindestens 90 Prozent seines Einkommens in Luxemburg verdient, erhalten dann die Möglichkeit, eine Einstufung in die günstigere Steuerklasse 2 zu beantragen.
Um in die Steuerklasse 2 aufgenommen zu werden, müssen Grenzpendler dem Steueramt ihre sämtlichen Einkünfte im In- und Ausland angeben und Belege dafür erbringen. Bisher habe das Steueramt nämlich Schwierigkeiten gehabt, von Grenzpendlern Information über die Einkünfte des im Ausland beschäftigten Ehepartners zu erhalten, klagte Finanzminister Pierre Gramegna am Samstag bei RTL. „Weil diese Informationen nicht zur Verfügung standen, weil die Grenzpendler sie nicht herausrücken wollten oder konnten.“
Die Salariatskammer, die sich unter den Gutachtern der Steuerreform als einzige ausführlich mit der Besteuerung der Grenzpendler befasste, kam zu dem Schluss, dass verheiratete Grenzpendler künftig nach fünf verschiedenen Regeln besteuert werden sollen: wie Junggesellen individualbesteuert in Steuerklasse 1; wie Junggesellen individualbesteuert in Steuerklasse 1, aber mit zusätzlichen Absetzmöglichkeiten; auf Antrag wie Einheimische mit einer Steuererklärung, wenn ein Ehepartner mindestens 90 Prozent hierzulande verdient; auf Antrag in Steuerklasse 2 durch einen Eintrag des Steuersatzes auf der Steuerkarte und spätere Abrechnung; und möglicherweise durch einen Eintrag des Steuersatzes auf der Steuerkarte und spätere Abrechnung, aber individualbesteuert in Steuerklasse 1.
Was die Salariatskammer mit dieser Aufzählung beweisen will: dass den Grenzpendlern und dem Steueramt ein kaum zu überblickend kompliziertes System zugemutet wird. Wozu auch noch beiträgt, dass mit den Nachbarländern drei unterschiedliche Steuerabkommen abgeschlossen wurden und nirgends geschrieben steht, welche Dokumente über die Einkommensverhältnisse das Steueramt überhaupt anerkennt.
Laut Alex Bodry war das derzeitige System „von den vorherigen Regierungen und Verwaltungen der Vereinfachung halber“ eingerichtet worden. Obwohl es „fundamental nicht dem Gleichheitsprinzip“ entspreche. Aber vielleicht sollte die Steuerverwaltung auch jahrelang durch die Finger schauen, um Grenzpendler mit attraktiven Nettoeinkommen anzulocken, ohne die Betriebe zusätzlich zu belasten. Vielleicht hielt manche Regierung eine gewisse Kulanz sogar für eine Form der Steuergerechtigkeit, weil die Grenzpendler hierzulande zwar Steuern zahlen müssen, aber damit viele staatliche Einrichtungen und Dienstleistungen mitfinanzieren, die sie gar nicht nutzen können.
Jedenfalls ist nun für Pierre Gramegna „der richtige Augenblick, da wir in einer Welt des ständigen Informationsaustauschs leben“, und Luxemburg sich nun auch zum Informationsaustausch verpflichtet habe. Wenn Luxemburger Banken vom bösen Ausland zum Informationsaustauch gezwungen werden, revanchiert man sich wenigstens auf Kosten ausländischer Beschäftigter. Die drei Finanzminister der Nachbarländer hätten dem luxemburgischen Kollegen versichert, dass die neue Besteuerung in ihren Augen „eine Selbstverständlichkeit“ darstelle, so Gramegna.
An dieser Neuregelung gab es von ADR bis Linke keine Kritik im Parlament. Im Namen der CSV erinnerte Gilles Roth daran, dass auch im Steuerrecht Luxemburg vom Ausland zu verschiedenen Anpassungen gezwungen wurde, die aber zu „Situationen geführt haben, wo Grenzpendler manchmal besser wegkamen als Ansässige“. Künftig werden manche Grenzpendler weniger gut wegkommen, sagte er voraus. Dies führe unter anderem zu Schwierigkeiten für Rentner, die weniger als 90 Prozent ihres Einkommens aus Luxemburg bezögen, weil sie vielleicht auch noch eine kleine Rente in ihrem Heimatland bekämen. Aber „die CSV steht zur Gleichbehandlung von Grenzpendlern und Einheimischen“, es dürfe „nicht zu einer Diskriminierung, aber auch nicht zu einer umgekehrten Diskriminierung kommen“. Weil dies ein „sensibles Thema“ sei, verschließe sich die CSV nicht „verschiedenen Anpassungen“, die noch am Gesetz vorgenommen werden könnten.
Offiziell geht es nur um eine „gerechte Besteuerung, weil die Grenzgänger nach ihrem wirklichem Einkommen besteuert werden“, so Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) bei der Vorstellung der Reform Ende Februar dieses Jahres in Senningen. „Es ist also eine ganz gerechte Sache, die wir hier machen“, meinte Finanzminister Pierre Gramegna. Denn die Grenzpendler und die Ansässigen würden nun gleichbehandelt. Die Situation der Grenzpendler würde mit derjenigen der hier wohnhaften Steuerpflichtigen gleichgesetzt.
An dieser Erklärung zweifelt aber die Salariatskammer, da es mit dem Gleichheitsprinzip unvereinbar sei, wenn Steuerklasse 2 für Verheiratete nur noch für Einheimische der Regelfall sein wird. So dass sogar schon die Frage aufgekommen ist, ob dies nicht Anlass zur nächsten Klage vor dem Europäischen Gerichtshof geben könnte.
Die Regierungsmehrheit ist sich durchaus der Konsequenzen ihrer Neuregelung bewusst. Es sei „nicht ausgeschlossen, wenn die Reform durchgesetzt ist, dass sie in den nächsten Jahren auch zu Mehreinnahmen in der Staatskasse führen wird“, kündigte LSAP-Fraktionssprecher Alex Bodry an.
Der Finanzminister glaubte am Samstag, dass auch nach der Verschärfung des Steuerregimes der Einkommensunterschied zwischen Luxemburg und den Nachbarregionen groß genug sei, um Grenzpendler anzuziehen. Andererseits scheint er es aber für eine begrüßenswerte Begleiterscheinung der Reform zu halten, wenn Grenzpendler zu Hause blieben, „Telearbeit leisteten“ oder die Beschäftigungsrate „nicht mehr so schnell wächst“. Schließlich habe man sich „qualitatives Wachstum“ zum Ziel gesetzt, um denselben Mehrwert und denselben Lebensstandard zu erwirtschaften – das heißt mit weniger Grenzpendlern.
Von 391 861 Lohnabhängigen Mitte dieses Jahres waren 176 837 oder 45,13 Prozent Grenzpendler, darunter viele Niedrigverdiener, Arbeiter, Verkäuferinnen, Wachleute, Sekretärinnen, Handelsvertreter, Leiharbeiter..., die über stundenlange Anfahrtswege schon frühmorgens und administrative Schikanen klagen.
Etwa seit der Anteil der Grenzpendler im Jahr 2004 begann, mehr als 40 Prozent der Lohnabhängigen auszumachen, nehmen Politiker und Unternehmer sie nicht nur als Arbeitskräftereservoir zur Kenntnis, das auch hilft, das Lohnniveau zu bremsen und das nachhause zurückkehrt, ohne Schulen, Krankenhäuser und Altersheime zu beanspruchen, sondern das auch wegen seiner politischen Rechtlosigkeit hierzulande Ziel zusätzlicher Sparmaßnahmen sein kann. Haushaltsberichterstatter Laurent Mosar (CSV) warnte Ende 2004 vor einer „Explosion der Zahl der Grenzpendler“, die „den Staat deutlich mehr kostet, als sie ihm einbringt“. Die nötige Ideologie dazu liefern Nationalisten und Sprachschützer mit dem Schüren von Überfremdungsängsten, Sozialstaatsgegner mit der Warnung vor einer Überlastung der weitgehend von Grenzpendlern finanzierten Rentenversicherung und Umweltschützer mit der Panik vor einem ökologischen Kollaps.
Anders als in anderen Ländern soll der Umbau des Sozialstaats zur Senkung der Staatsquote nicht durch soziale, sondern durch nationale Selektivität auf Kosten der einen Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung gehen, die jenseits der Grenze wohnt. Seither überbieten sich christlich-soziale, liberale, sozialdemokratische, grüne und andere Politiker mit Vorschlägen, wie unter Umgehung der europäischen Freizügigkeit die „Exportabilität“ von Kindergelderhöhungen und anderen Sozialleistungen auf Kosten der Grenzpendler mit Chèques-services, Stipendien, Wohngeld, Ökobonus und Sachleistungen statt Geldleistungen verhindert werden kann. Allerdings wurde Luxemburg schon wiederholt vom Europäischen Gerichtshof dazu verurteilt, diese Leistungen auch Grenzpendlern zu gewähren.
So wird seit Jahren ein Zweiklassensystem von Lohnabhängigen gepflegt, in dem die eine Hälfte gegen die andere, den der Arbeitsplatzkonkurrenz, der Umweltbelastung, des Kaufkraftexports, der Bedrohung der nationalen Identität und nun auch der Steuerhinterziehung beschuldigten Teil, ausgespielt wird. Vielleicht sollte das kurzlebige Koalitionsangebot zur Einführung des legislativen Ausländerwahlrechts nicht nur auf Kosten der verbeamteten, sondern auch der im Ausland wohnenden Lohnabhängigen gehen.
Aus dem nationalen Konsens zur verschärften Besteuerung der Grenzpendler scheren nur die Gewerkschaften aus. Und auch sie nahmen sich des Themas recht spät an, da sie es für delikat halten. Denn sie können gegenüber ihren einheimischen Mitgliedern kein System verteidigen, das erlaubt, verschiedene Einkommen dem Steueramt vorzuenthalten. Ihren zahlreichen ausländischen Mitgliedern können sie aber keine Reform schmackhaft machen, welche ihre Steuerlast erhöht. Deshalb tun sie sich auch schwer mit der Ausdrucksweise: Die Steuerreform verursache gegenüber den Grenzpendlern keine Ungerechtigkeit, sondern eine „Unsicherheit“, heißt es in den Stellungnahmen.
In den Gutachten der Salariatskammer werden die Organisationen dagegen deutlicher. Dort befürchten sie, dass die Steuerreform Streitigkeiten und Reibereien in den Betrieben verursache. Und für die Salariatskammer droht durch die Steuerreform „... par la division du salariat qu’elle engendre, une atmosphère d’autant plus nauséabonde que le climat politique européen est miné par le retour et la montée des populismes“ (S. 64).
Nach einer Pressekonferenz vor 14 Tagen veranstalteten OGBL, LCGB und Aleba am vergangenen Freitag einen Protestposten vor dem Parlament. Und in der Stellungnahme, die sie anschließend Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) überreichten, verlangen die Gewerkschaften nicht, die neue Regelung zu streichen, sondern lediglich aufzuschieben, um rechtliche Klarheit zu schaffen und Härtefälle zu vermeiden.
Besonders betroffen sind Haushalte, die ein höheres Einkommen im Ausland als in Luxemburg verdienen, und Rentner, die neben einer Rente in Luxemburg auch eine Rente in ihrem Heimatland beziehen. Deshalb meinte der Finanzminister, dass bis zum Inkrafttreten der neuen Bestimmungen in einem Jahr genügend Zeit bliebe, nicht um das Prinzip noch einmal in Frage zu stellen, sondern um alle Fälle auf Einzelfälle hin zu untersuchen, die ungerecht oder ungleich gegenüber Ansässigen behandelt würden. Das werde „natürlich repariert“, und darüber wolle er auch in den kommenden Monaten mit den Gewerkschaften reden.
Aber vielleicht haben er und das Parlament sich auch verrechnet, und wenn viele Grenzpendler im Wahljahr 2018 merken, dass ihre Steuern deutlich gestiegen sind, versuchen sie, sich zu wehren. Die Demonstration mehrerer tausend Grenzpendler gegen ihre Benachteiligung bei der Kindergeldreform am 16. September 2010 hatte gezeigt, dass die morgens ins Land kommende Hälfte der Lohnabhängigen nicht mehr bereit sein könnte, wie von ihr erwartet, abends nach getaner Arbeit wortlos über die Düdelinger Autobahn zu verschwinden.