Wer entscheidet wie über Leben und Tod, sollten medizinische Ressourcen im Kontext der Coronakrise knapp werden? Gibt es ethische Leitlinien in den Kliniken für die Behandlung von Covid-19-Patienten, hatte das Land am 25. März gefragt. Hintergrund waren Berichte aus Italien und Spanien, wo Covid-19-Patienten nicht mehr adäquat versorgt werden konnten und starben, weil medizinisches Material fehlte. „Zu diesem Zeitpunkt haben wir keine (...) und wir brauchen das zu diesem Zeitpunkt auch nicht“, hatte Gesundheitsministerin Paulette Lenert am 25. März dem Land geantwortet. Und hinzugefügt: Sie hoffe, dass Luxemburg nicht in die Situation komme. Sollte das dennoch der Fall sein, sei „nicht ausgeschlossen, dass man auf den Weg gehen und Leitlinien festlegen muss“.
Die abwartende Haltung der Ministerin vor einer Woche überraschte nicht nur Journalisten. Kriterien für so heikle Abwägungen erst zu formulieren, wenn der Druck auf das medizinische Personal am größten ist, scheint gewagt, zumal andere Länder wie Frankreich oder England bereits diesbezügliche Anleitungen veröffentlicht haben. Die rasante Verbreitung des Virus zeigt, dass der Tag schnell kommen kann. Zum anderen waren in Luxemburg Ärzte in den großen Kliniken da schon im Gange, ihre Leitlinien vor dem Hintergrund der Covid-19-Krise zu überdenken: Die Ethikkommission der Robert-Schuman-Krankenhausgruppe hatte sich am 17. März zusammengesetzt und drei Tage später den Leitfaden Ethische Herausforderungen angesichts der Covid-19-Pandemie veröffentlicht.
Er hält fest: Auch in Krisenzeiten stehe die Würde des Patienten im Mittelpunkt. „Jeder Patient hat Anrecht auf die beste Behandlung“, bekräftigt Armand Koch, Vizepräsident der Kommission und Hals-Nasen-Ohren-Arzt der Zithaklinik. Sollten Betten oder Beatmungsgeräte knapp werden, gelte die Maxime first come, first served: „Chronologisches Alter, Geschlecht oder andere Faktoren wie sozialer Status dürfen nicht über die Versorgungsqualität entscheiden“, betont er. Eher sei das biologische Alter heranzuziehen, heißt es in den dreiseitigen Empfehlungen. Darunter verstehen Mediziner die Fragilität eines Patienten, weitere (Vor-) Erkrankungen, die seine Überlebenschance reduzieren. Vorrangig behandelt würden demnach diejenigen Covid-19-Patienten, die eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit beziehungsweise bessere Gesamtprognose haben. Bei Älteren soll, um „unverhältnismäßige Maßnahmen zu vermeiden“, der Vertrauensarzt bestenfalls bereits im Vorfeld einen Behandlungsplan aufstellen, der definiert, was zu tun ist, sollte sich der Gesundheitszustand plötzlich dramatisch verschlechtern. Dabei ist der Wille des Patienten nach dem Grundsatz der Selbstbestimmung zu berücksichtigen und sind die Angehörige unbedingt einzubeziehen. Dies gelte erst recht bei dementen Patienten.
Mit den Überlegungen steht die Ethikkommission der Robert-Schuman-Gruppe nicht allein. Fernand Pauly, Arzt am CHL und dort für die Abteilung Evaluation zuständig, nennt dieselben Grundsätze: „Jeder Patient hat ein Recht darauf, in Würde, bestmöglich und ohne Diskriminierung behandelt zu werden.“ Durch die Covid-19-Krise sei es aber möglich, dass nicht jeder Zugang zu allen Ressourcen haben kann, räumt er ein. Um sich abzusichern, sollten sich Mediziner an nationale und internationale Standards orientieren, so Pauly, der unterstreicht, welche enorme psychologische Belastung dies für das behandelnde Arzt- und Pflegepersonal bedeute. „Letztlich trifft der Arzt die Entscheidung“, beschreibPhilosoph und Uni-Dozent Norbert Campagna den Gewissenskonflikt, der auf das Personal zukommt, sollten die Kapazitäten in den Krankenhäusern wegen Covid-19 nicht ausreichen. Campagna war bis vor kurzem Präsident der Ethikkommission der Robert-Schumann-Gruppe. Damit sie mit der Abwägung nicht alleine stehen, bieten die Ethikkommissionen an, ihnen zur Seite zu stehen und Entscheidungen gemeinsam zu diskutieren und aufzuarbeiten.
In dem Kontext kommen den Empfehlungen des nationalen Ethikrats, eingesetzt, um zu wichtigen ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen Stellung zu nehmen und so Politik und Gesellschaft Orientierung geben, besondere Bedeutung zu: Sie verankern die individuelle Entscheidung der einzelnen Ärztin im gesamtgesellschaftlichen Kontext. „Unsere Empfehlungen sind als Rahmen zu verstehen“, erklärt Ratsvorsitzende Julie-Suzanne Bausch. Neun Mitglieder mit unterschiedlichen Berufsprofilen haben gemeinsam eine Position verfasst, Vorlage waren Stellungnahmen zu Covid-19 des Deutschen Ethikrats und medizinische Empfehlungen aus Frankreich. Leider lag das Dokument bis Redaktionsschluss nicht vor.
Die Diskussionen haben auch die Regierung erreicht: Am 27. März, als Premier Xavier Bettel und Paulette Lenert gemeinsam im Livestream an die Öffentlichkeit traten und die brisante Gewissensfrage da bereits in den sozialen Netzwerken zirkulierte, ergriff der Premierminister das Wort: Die ethische Problematk sei im Regierungsrat wohl thematisiert worden, die Gesundheitsministerin werde sich noch am selben Tag mit den Ethikkommissionen zusammensetzen, um mit ihnen eine gemeinsame Vorgehensweise abzusprechen.