Iden des März Vor vier Monaten war die Welt noch in Ordnung. Der große Feind der Gegenwart trug noch keinen Namen, er war noch nicht einmal bekannt. Erst am letzten Tag des vergangenen Jahres meldeten chinesische Autoritäten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass sie auf etwas Merkwürdiges gestoßen sind: In der Millionenstadt Wuhan gab es eine geringe Anzahl von ungewöhnlichen Lungenentzündungen. Eine Woche später stellte die WHO fest, ein neues Virus entdeckt zu haben: SARS-CoV-2. Während sich das neue Coronavirus mitsamt der Krankheit Covid-19 in Ostasien rasant ausbreitete, blickte man in Europa und in den Vereinigten Staaten mit Irritation und nicht frei von Argwohn auf das entschlossene Vorgehen der betroffenen Staaten. Das Virus schien weit weg – die Gefahr war für nahezu niemanden zu diesem Zeitpunkt tatsächlich abzuschätzen, es handelte sich um eine Randnotiz in den Medien.
Es waren erst die dramatischen Bilder, Zahlen und Geschichten aus Norditalien, sowie das Drängen von Virologen und Epidemiologien, das dazu führte, dass die europäischen Staaten handelten. In der Woche um Freitag, den 13. März, veränderten die europäischen Staaten sich so rasant, wie sie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr getan hatten. Flatten the curve wurde zum Primat der Stunde: Es galt alles zu unternehmen (whatever it takes), um das Gesundheitssystem und die Kapazitätsgrenzen der Krankenhäuser nicht zu überlasten. Demokratien verwandelten sich in nationale Gesundheitsstaaten, die sich fortan primär nur noch einem Ziel widmeten und alle Lebensbereiche danach ausrichteten: dem Kampf gegen das Virus. Das autoritäre Handeln des chinesischen Staates, das vorher noch mit Argwohn betrachtet wurde, avancierte zur Blaupause. Fast so, wie Historiker Eric Hobsbawm es für die Zeit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre feststellte, als Eliten im Westen interessiert auf Pläne und das kontrollierte staatliche Agieren der Sowjetunion blickten und die Repressionen gar nicht mehr recht wahrnahmen. (Das Zeitalter der Extreme, S. 128) Die Woche der Iden des März begann mit den Worten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron: „Nous sommes en guerre.“
Das Unbekannte Doch bis heute stellt sich die Frage: Im Krieg gegen wen eigentlich? Denn der Feind, das neue Coronavirus, ist weiterhin recht unbekannt. Selbst Virologen und Epidemiologien wissen derzeit wenig über SARS-CoV-2. Wie es sich verhält, wie es sich verbreitet, wie es mutiert und welche Symptome es bei Menschen hervorruft. Nicht einmal die Frage, ob Erkrankte nach Genesung tatsächlich (auch gegen Mutationen) immunisiert sind, lässt sich mit letzter Sicherheit sagen, auch wenn gerade vieles darauf hindeutet. Nach welcher Zeitspanne ein Infizierter überhaupt als genesen gilt, ist ebenfalls noch unklar.
Zwar unternehmen alle Staaten große Anstrengungen, um die Bevölkerungen auf das Virus zu testen, aber die Aussagekraft dieser Tests gilt als umstritten. Insbesondre was Modellrechnungen und Prognosen für den Verlauf der Pandemie anbelangt. „Die Zahlen sind vollkommen unzuverlässig“, sagt der Statistikexperte Gerd Antes im Spiegel und spricht damit wohl stellvertretend für den Großteil der Forschergemeinde. Auch Dr. Pierre Hertz, Koordinator der vier Centres de soins avancés (CSA), warnt vor Prognosen auf Basis der aktuell zur Verfügung stehenden Zahlen. „Einige scheinen den ganzen Tag damit zu verbringen, immer neue Verlaufskurven zu berechnen“, so Hertz. „Das halte ich für spekulativ und unseriös.“ Es sei demnach für Luxemburg schlichtweg nicht abzusehen, wie sich das Virus weiterverbreiten und wann ein möglicher Peak erreicht sein wird. In der Zwischenzeit führt die WHO rund eine Million nachgewiesene Fälle und rund 50 000 Tote in ihrer Datenbank auf.
Das Problem des unzuverlässigen Zahlenmaterials liegt daran, dass bis vor kurzem eigentlich nur Menschen getestet worden sind mit Verdacht auf Covid-19. Also Erkrankte, die Symptome aufwiesen wie trockener Husten, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen oder auch Geschmacks- und Geruchsverlust. Luxemburg gehört dabei zu den Staaten, die in relativen Zahlen weltweit mit am meisten testen. Allerdings haben bereits mehrere Studien aus China und Italien gezeigt, dass mindestens die Hälfte der untersuchten SARS-CoV-2-Infizierten nicht auf das Virus mit Symptomen reagierten. Und damit wussten sie auch nicht, dass sie infiziert waren. Eine neue noch unveröffentlichte Studie der Stanford Universität spricht sogar von 90 Prozent. Diese Infizierten können das Virus allerdings genauso verbreiten wie Erkrankte mit Symptomen. Die Dunkelziffer der Erkrankten ist deshalb wohl um ein Vielfaches höher, als die offiziellen Zahlen der Regierung, die täglich gegen 18 Uhr publiziert werden, es darstellen. Das Virus verbreitet sich weiter im Unbekannten.
Antikörpertest Damit das Zahlenmaterial wirklich aussagekräftig wird, muss also ein neues Testverfahren her. Bisher operieren die Mediziner mit sogenannten PCR-Abstrichtests. Dabei wird per Abstrich Gewebe aus der Nase oder aus dem Rachenraum entnommen. Da das Virus sich in den ersten sieben Tagen zunächst im Rachen festsetzt, bevor es in die Lunge wandert, gilt dieser Test insbesondre in der Frühphase als sicher. Der PCR-Test gilt derzeit als Goldstandard, auch wenn er aufwendig und kostenintensiv ist. Zunächst hatte die Regierung den PCR-Test nur für Erkrankte mit schweren Symptomen vorgesehen (auch weil er nur in einer begrenzter Zahl verfügbar war), mittlerweile hat das Gesundheitsministerium jedoch in einem neuen Schreiben die Ärzte angeleitet, „alle Patienten mit Symptomen“ zu testen.
Dennoch wird es kaum möglich sein, mit dem PCR-Test brauchbares statistischen Material für gesamte Bevölkerungen zu erstellen. In Zukunft wollen die Staaten deshalb mit flächendeckenden Antikörpertests arbeiten. Es handelt sich dabei um einen sogenannten ELISA-Test. Das Prinzip ist simpel: Ein Bluttropfen einer Testperson wird auf Plastikplättchen geträufelt. Spezielles Licht lässt das Blut dann gelb aussehen, und je dunkler dieses Gelb wird, desto mehr Antikörper wurden gegen das Coronavirus gebildet. Die Tests gelten als kostengünstig und sehr zuverlässig.
Sie haben allerdings zwei Nachteile: Zum einen sind Antikörper erst frühestens zehn Tage nach der Kontamination nachweisbar. Und zum anderen sind sie aktuell in großer Form noch nicht auf dem Markt verfügbar. Wie das Luxembourg
Institut of Health jedoch mitteilt, arbeitet Luxemburg eigenständig an der Entwicklung eines solchen Schnelltests auf Antikörper, der möglicherweise in vier Wochen zur Verfügung stehen könnte. In einem Interview mit dem Luxemburger Wort sagt Prof. Markus Ollert, der Leiter der Luxemburger Covid-19 Task Force: „Das Ziel muss natürlich sein, dass die gesamte Luxemburger Bevölkerung im Verlauf der nächsten Monate durchgetestet wird und dass dann jeder eine Art Covid-19-Immunitätspass erhält.“
Virologen und Epidemiologien gehen weiter davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert sein müssen, damit die Epidemie als eingedämmt gilt. Erst dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine nicht-immune auf eine immune Person trifft. Erst dann können die aktuellen Maßnahmen, die das öffentliche Leben einschränken, vollends gelockert werden. Erst dann ist der Begriff Herdenimmunität zutreffend. Doch noch ist schlichtweg nicht zu berechnen, wann diese Schwelle erreicht ist. Und um den Zeitpunkt zu ermitteln, führt kein Weg an den Immuntests vorbei.
Eine andere vermeintliche Exit-Strategie aus dem aktuellen Ausnahmezustand wäre ein Impfstoff. Doch laut Prognosen des deutschen Robert-Koch-Institut oder auch des Luxembourg Institut of Health wird ein Impfstoff erst frühestens Anfang des kommenden Jahres zur Verfügung stehen.
Lernen von Italien Das Gesundheitswesen bereitet sich schon länger auf eine lang-anhaltende Epidemie vor. Es ist eine gesicherte Kenntnis aus den Erfahrungen in der Lombardei, dass das Virus sich vor allem in Kranken- und Pflegehäusern ausgebreitet hat. „Krankenhäuser sind Virenschleudern“, heißt es in einer Studie von Ärzten aus Bergamo. Diese Erkenntnis hat auch die Luxemburger Regierung dazu veranlasst, ein neues Modell für das Gesundheitssystem zu entwickeln.
Am 18. März ist Dr. Pierre Hertz, Mediziner für öffentliche Gesundheit der CNS, damit beauftragt worden, eine Alternative für die geschlossenen Maisons médicales zu finden sowie eine Lösung, das Gesundheitssystem bestmöglichst auf den Ansturm mit Coronainfizierten vorzubereiten. Es handelt sich um eine Aufgabe, die im Normalfall Wochen oder Monate beanspruchen würde. Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) gab Hertz drei Tage dafür, bis zum nächsten Regierungsrat.
Hertz musste also schnell und nach eigenem Ermessen handeln, da er keine Notfallpläne in den Schubladen für diesen spezifischen Fall vorfand. Er entschied sich dafür, vier Zentren in aller Eile zu errichten, in denen alle Patienten behandelt werden sollen: in Luxemburg-Stadt (Luxexpo), in Esch (Rockhal), in Ettelbrück (Däichhal) und in Grevenmacher (Kulturzentrum). Um die Patienten möglichst effizient zu behandeln, hat er die Centres de soins nach Prinzipien organsiert, die an Taylorismus erinnern: Die Patienten werden von Beginn in Corona- und Nicht-Corona-Patienten eingeteilt. Sie bewegen sich anschließend nur nach vorne, müssen sich nie umdrehen oder in eine frühere Zone zurückkehren – fast so als wären sie in einem Ikea-Kaufhaus. Je schlimmer ihr Fall ist, desto weiter dringen sie in das CSA vor. Und in akuten Fällen verweisen die Ärzte den Patienten sofort an ein Klinikum.
Für Hertz war dabei von Beginn an wichtig, dass auch das medizinische Personal sich nicht zwischen den Corona- und Nicht-Coronapatienten hin und her bewegt, um nicht selbst zum Überträger des Virus zu werden wie in Bergamo. Die Organisation der CSA klappt in der Theorie recht gut, aber mittlerweile haben einige Ärzte erste Kritik am neuen System geäußert. Sie beanstanden die Organisation der Zentren, aber auch das spartanische Untersuchungsmaterial, das sich dort befindet.
Situation in den Krankenhäusern Der Grund für die schlichte Materialausstattung liegt nicht nur am improvisierten Zustand der Zentren, sondern hat auch einen marktwirtschaftlichen Hintergrund. Denn Luxemburg kämpft aktuell nicht nur gegen das Virus an, sondern auch am internationalen Markt für medizinisches Material und Medikamente gegen staatliche Kontrahenten. Beatmungsgeräte, Masken, Lungenscanner und Desinfektionsmittel sowie Handschuhe gelten weltweit weiterhin als Mangelware.
Zurzeit zählt Luxemburg rund 130 Beatmungsgeräte sowie rund 200 Betten auf den Intensivstationen. Davon waren Mitte dieser Woche 34 belegt, unter anderem von zehn Patienten aus der französischen Region Grand-Est, die als Zeichen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit nach Luxemburg gebracht wurden und Teil des Deals sind, damit Frankreich das französische Personal nicht in die eigenen Krankenhäuser abberuft.
Covid-19-Erkrankte, die bereits hospitalisiert waren, berichten von äußerst professionellen Zuständen in den Krankenhäusern, was Hygiene und sonstige Vorschriften anbelangt. Essen wird nur noch in Plastikbehältern serviert und Essensreste noch in den Zimmern entsorgt. Fenster dürfen nicht geöffnet werden, an Besuch ist nicht einmal zu denken. Es herrscht ein ständiger Unterdruck in den Zimmern, um zu verhindern, dass Keime und Viren sich verbreiten. Denn noch ist ebenfalls nicht klar, ob Covid-19 Erkrankte mit oder am Virus sterben.
Allerdings berichtet auch eine Patientin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, dass die Zustände in einem Krankenhaus im Süden des Landes zwar klinisch professionell, aber äußert unmenschlich seien. „Ich war vier Tag dort, bevor ich eigenhändig geflüchtet bin“, so die Erkrankte, die mittlerweile als genesen gilt. Sie habe in dieser Zeit lediglich zwei Mal flüchtig einen Arzt gesehen und habe keine Informationen zu ihrem Zustand erhalten. Und sie sei auch nicht über die Therapie informiert worden, die bei ihr angewendet wurde. Laut Angaben der Patientin haben die Ärzte im Krankenhaus die Covid-19-Patienten mit einer hohen Dosis Chloroquin sowie Hydroxychloroquin behandelt.
Es handelt sich dabei um alte Anti-Malaria-Mittel, die vom französischen Mediziner Dr. Didier Raoult sowie mittlerweile auch von Donald Trump als „Wundermittel“ gepriesen werden. Der Mikrobiologe Dr. Raoult legte vor kurzem eine Studie vor, die den heilenden Effekt des Mittels nachweisen sollte. Die Studie ist jedoch von der internationalen Fachwelt stark angezweifelt worden. Der deutsche Virologe Prof. Christian Drosten hält sie für wenig erkenntnisbringend und nimmt generell Abstand von einer Therapie mit Chloroquin, da sie schwerwiegende Nebenfolgen haben kann, ohne dass ein positiver Effekt gesichert sei.
Die Patientin berichtet ebenfalls von schweren Nebenwirkungen, spricht von Magenbeschwerden, Übelkeit und Appetitlosigkeit. Das Pflegepersonal habe davon lediglich Kenntnis genommen, ihr wurde nahegelegt, das Mittel dennoch weiter zu schlucken.
Mittlerweile hat die Weltgesundheitsorganisation Chloroquin und Hydroxychloroquin als gefährlich eingestuft und rät von der Vergabe ab. Das Luxemburger Gesundheitsministerium hat diesen Rat ähnlich wie Frankreich befolgt und hat den Ärzten mittlerweile untersagt, Covid-19-Patienten das Mittel zu verschreiben. Einige Ärzte aus Luxemburg, die ebenfalls nicht namentlich nicht genannt werden wollen, halten diese Entscheidung für falsch. „Hydroxychloroquin ist aktuell unser best shot, wir sollten unbedingt auf das Mittel zurückgreifen“, so ein Allgemeinmediziner.
Stellungskrieg Luxemburg bereitet sich demnach auf eine lange Phase der Epidemiebekämpfung vor. Die wirtschaftlichen Kosten werden wohl unvergleichbar sein, aber zum aktuellen Schlachtplan von flatten the curve gibt es derzeit keine bessere Alternative, es sei denn man würde eine Überlastung des Gesundheitswesens und einen Anstieg der Todesfälle in Kauf nehmen. Es ist die schwere Bürde der Politik, dass ihr im günstigsten Verlauf der Pandemie vorgehalten wird, mit den drakonischen Entschleunigungsmaßnahmen übertrieben zu haben.