Eine Wucht, dieser Max Thommes. Eine Wucht, wie sich der Klon wortgewaltig aus dem eigenen Gewebe presst. Auch der brachiale Bass-Sound, das spätere Verquirlen des Urschleims zum Kopie-Alpha-Wesen. Eine Wucht. Eine fette Stunde nicht wirklich durchatmen, weil da etwas über die Bühne rast und pulsiert. Am Schluss fällt der Vorhang, der Raum wird hell, meine Sitznachbarin von rechts meint dazu nur „Puh“, die Augen feucht.
Doch Schritt für Schritt: Die Radialisten, Max Thommes und Daniel Stammet, performen das kaum zu Ende geprobte Kopie_Kult. Gegenwart war gestern, eine transmediale Performance, am Freitag im Rahmen des 10. Fundamental Monodrama-Festivals in den Räumen der Banannefabrik. Ein junger Mann besteigt die Bühne, besteigt das Rednerpult, in einen schimmernden Alu-Umhang gehüllt, der Haarkranz futuristisch hochgeschmiert, beschienen von unten mit gleißendem Licht. Wie viele Zuschauer den projizierten Text auf der Rückwand bemerkten, ist weder klar noch von Belang. Mit Knacklauten, zuckender Brustmuskulatur und stotternden Plosivlauten beschreibt der Redner, einem Auswurf gleich, wie unter der Haut käferähnliche Wesen aus seiner eigenen DNA durchbrechen, sich aus einer schleimigen Pfütze das eigene Erbmaterial zum Zwergmännchen formt, das fortan die Kontrolle über das eigene Ich übernimmt. Der Klon beherrscht sein Original, fordert zur Herstellung eines Kopie-Alpha-Wesens auf. Zu den Zutaten zählt auch die Gebärmutter einer Kuh. Alles kommt in den Blender, nur der Uterus fehlt. Im Wahn jedoch schlitzt er der nackten Muse das Herz aus der Brust. Ist das eingepflanzte Männchen nicht mehr als die eigene Vorstellungskraft, nur eine pervertierte Ausprägung seines eigenen Ichs, verloren in den Phantasmen einer Reproduktionstechnik, die das Individuum im Kopie-Kult auflöst?
Kopie_Kult, das 2018 aus dem Monolabo-Projekt „Work in Progress“ hervorging, gehört zu jenen Theaterarbeiten, die man mehrfach sehen müsste, um alles zu verstehen, deren einmaliger Besuch jedoch heftige Eindrücke hinterlässt. Verschuldet ist dieser Umstand sicherlich der Organik von Max Thommes’ Text und der Gewalt seiner Rhetorik. Hier mischt sich der organische Ekel mit pervertierter Erotik (nackte Muse und Mordopfer Fabiola). Andererseits ist der Begriff der transmedialen Performance Programm. Projizierte Videos, gleißende Lichter, kardiale Bass-Stöße und Thommes’ befremdlicher Tanz führen zu einem sehr sinnlichen und plastischen Bühnenerlebnis. Teile der Bewegungen werden auf einem futuristischen Laufband beschleunigt.
Um sich mit der dystopischen Vielschichtigkeit dieser „Revolution biologischer Selbstoptimierung“ ausreichend auseinanderzusetzen und dem Thema analytisch gerecht zu werden, ist Kopie_Kult zu gerafft, zu überladen. Es gelingt dem Künstlerkollektiv aber Fragen nach Identität, Lebenserfüllung und befremdlicher Vervielfältigung des Individuums in einer heftigen Science-Fiction aufzuwerfen und sie dem Zuschauer ohne Atempause vor die Füße zu schmeißen. Kopie_Kult ist kein Theater für besonnene Betrachtung und Figurenentwicklung. Kopie_Kult ist ein heftiger dramaturgischer Auswurf, der fraglos polarisiert.
Bedenkt man, dass der einzige Zusammenhang zwischen dieser Produktion und dem das Festival abschließenden Soloprogramm Ich bins deine Mutter die körperbetonte Interpretation der Darsteller ist, dürften beide eigentlich nicht in einem Beitrag landen. Die krampfhafte Suche nach weiteren Überschneidungen ist somit obsolet. Ich bins deine Mutter bedeutet Stille, Zurückhaltung und volle Konzentration auf Wolfram Koch. Jakob Felders Regiearbeit basiert auf Erzählungen und Briefwechseln aus dem Werk Einar Schleefs, dem 2001 verstorbenen Dramaturgen, Regisseur und Schriftsteller aus dem Harz. Elli, Trude, Regina, Einar, Hans-Georg, Mutti: Schleefs Prosa-Fragmente aus dem Buch Die Bande des Jahres 1982 liefern eine Episoden-Collage aus der ulkig-liebevoll nachempfunden Welt der einfachen Leute, dazu Briefauszüge der eigenen Mutter. Interpretiert werden sämtliche Figuren vom Recklinghäuser Bühnenstar Wolfram Koch. Koch und ein Podest; mehr braucht es nicht. Ein brusthoher Holzsockel steht verlassen in der Mitte des Bühnenbodens. Bei Eintritt der Zuschauer stellt er den Boden einer Telefonzelle dar, aus der die alte Mutter ihren Jungen ausforscht, während sie nach verlorenen Münzen klaubt. Der Sockel fungiert als Aufzugsschacht, in den sich der Lebensmüde stürzt. Er lässt eine Sitzbank im Reisebus vermuten, darin Elli sich die Hose vollmacht. Sie leidet halt unter Durchfallkrämpfen.
Wo keine multimediale Ablenkung geboten wird, wo keine Requisite nach metaphorischer Deutung ruft, da richtet sich das Augenmerk vollends auf Mimik, Gestik und Rhetorik des Solo-Darstellers. Ein Künstler des Formats eines Wolfram Koch ist in der Lage, sekundenschnell von einer Figur in die andere zu schlüpfen. Er hält sich den verkrampften Magen genauso glaubwürdig wie er Sekunden später die blinzelnde Oma oder den vor stolz gestikulierenden Hausherrn gibt. Feine Nuancen in den Augen, ein wippender Oberköper schlafend im Bus auf Schotterstraßen: Koch beherrscht die Tastatur gestischer Instrumente im Detail, stets in augenzwinkernder Distanz zu seinen Figuren.
Stellenweise lassen sich Beziehungen zwischen dem halben Dutzend Episoden vermuten, dann wieder brechen die Kontexte in sich zusammen. Ich bins deine Mutter muss als kompakte Zusammenstellung loser Eindrücke einfacher Menschen verstanden werden, in die Schleef, Felder und Koch sich hineinversetzen. Dieser Theaterabend ist keine große Show. Ich bins deine Mutter ist ein Soloprogramm, so herrlich wie bescheiden, das dem Bühnenkünstler körperliche Fitness und präzises Feingespür abverlangt. Selten hat man einen Schauspieler so herrlich beim Panik-Kacken beobachten können: Lakonischer ließe sich der Abschluss des nunmehr 10. Monodrama-Festivals unter der Leitung von Steve Karier wohl nicht loben.