Im Katz- und Mausspiel von staatlichen Autoritäten und Whistleblowern wie Assange, Snowden und „Schmidt“ fällt die öffentliche Bewertung nur allzu oft einseitig aus
29.9.2009: „Qadhafi appeared particularly enthralled by Tuareg horse racing during two of the events, clapping and smiling throughout the races. The flamenco dancers that participated in his celebratory events appeared to spark a similar interest“, schreibt der damalige Botschafter Gene Cratz aus seinem Büro in Tripolis an seine Vorgesetzten in Washington. Die hier zitierte Mail wird später an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergeleitet. Wer sich den gesamten Inhalt antun möchte, erfährt von weiteren „eccentricities“ des ehemaligen libyschen Gewaltherrschers. Er habe nie auf die Begleitung durch seine üppige ukrainische Krankenschwester verzichten wollen und fliege zudem ungern über Wasser, so Cratz.
Mit 250 000 Depeschen, Mails und anderen international unter Verschluss gehaltenen diplomatischen Kommunikationen wurde auch diese ab November 2010 mit medialem Getöse auf der Plattform des australischen Leakers Julian Assange enthüllt: ein Dammbruch ungefilterten Rohmaterials an Banalem, Peinlichem und Brisantem.
Mit Julian Assanges im August 2010 veröffentlichtem Wikileaks Manifesto und dem darin skizzierten Bestreben, Verschwörungen auf höchster Ebene durch Aufdeckung zu brechen, betont die Plattform nach außen hin ihren Aufklärungsdrang. Zu diesem Zeitpunkt jedoch beklagen Mitarbeiter bereits die ungesund zentralistische, auf Assange zugeschnittene Hierarchisierung der „not-for-profit media organisation“. Wer sich Assanges Auftritt auf dem Balkon der ecuadorianischen Botschaft in London genauer anhört, vernimmt neben zahlreichen Aufrufen zu kritischer Haltung und Wahrung der Menschenrechte zugleich eine bedeutende Anhäufung verbaler wie körpersprachlicher Rhetorik, die Assanges Hang zum Messianischen untermauert. Dazu passt die auf Russia Today ausgestrahlte, musikalisch effektvoll angekündigte Julian Assange Show.
Ohne Zweifel steckt hinter der Veröffentlichung der „Afghan Diaries“ im Juli 2010 auch der unbedingte und notwendige Wille nach Entlarvung brutaler Kriegsverbrechen. Wozu aber führt die ungefilterte Ausschüttung kommunikativer „policy in the making“ (ministerielle Meinungsbildung)? „Ein Außenministerium (...), das auch intern stets diplomatisch sein muss, funktioniert nicht. Ein Mensch, der niemandem mehr schreiben kann, was er denkt, auch nicht“ (sueddeutsche.de, 11/2010). Geht es nur um Aufklärung oder nicht auch um schnöde Provokation, geht es um Lecks oder um eine medienwirksame Schwemme?
Selbstloser und gewissenhafter wirken dahingegen die Bemühungen des Edward Snowden um Aufklärung über die Patriot-Act-Ära ab Mai 2013. Der Whistleblower, ein Anglizismus mit Aussicht auf die Auszeichnung „Wort des Jahres“, hat sich zwar nur einmal und ohne jede Allüre in einem anonym gehaltenen Hotelzimmer in Hong Kong zu Wort gemeldet. Er liefert auch kein Durcheinander an Banalitäten und Skandalen. Snowden leistet inhaltlich aber mehr, nämlich primär Aufklärung über das, was er über seine Tätigkeit als Infrastruktur-Analyst bei US-Technologieberater Booz Allen Hamilton an zentralem Insider-Wissen angehäuft hat. Die hochkomplizierten Kommunikations-, Auswertungs- und Speicherverfahren durch das von der NSA betreute Programm PRISM stellt Snowden dem politischen Souverän zur Verfügung: hochbrisantes, streng geheimes Wissen, das unseren Glauben an eine ins dritte Jahrtausend hinübergerettete Privatsphäre als haarsträubende Naivität entlarvt.
Den „globalen Abhörwahn“ beschreibt und dokumentiert unter anderem die Fachzeitschrift c’t in ihrer Ausgabe 16/13 zur Genüge. Snowden stellt dem IT-Verfahren jedoch einen klaren demokratischen Überbau entgegen: „These things need to be determined by the public, not by somebody who is simply hired by the government.“ Er verrät keine diplomatischen Stolpersteine (Westerwelles „Arroganz“, Putin als „Alpha-Rüde“). Ihm scheint der Inhalt wichtiger als die Show. Bisher blieben weitere großspurige Auftritte aus, die selbst im Transitbereich des Moskauer Flughafens möglich gewesen wären. Snowden hat die internationale Politik erschüttert. Er hat mutmaßlich Geheimnisverrat begangen, einen Eid gebrochen und sich somit nach US-Recht wohl strafbar gemacht. Doch trägt er auch Schuld nach ethischen Maßstäben?
Am 29.7.2013 tickert um 21:29 die Eilmeldung auf Spiegel-Online ein: „Doktorarbeit: Plagiatsvorwurf gegen Bundestagspräsident Norbert Lammert“. Der „Plagiatsjäger“ mit dem Pseudonym Robert Schmit hat die vermeintlichen, mittlerweile von Wissenschaftlern teilweise entkräfteten Vorwürfe auf lammertplag.wordpress.com fein säuberlich aufgelistet, und ist laut eigener Aussage auch für den Fall der ehemaligen Forschungsministerin Annette Schavan verantwortlich. Möglicherweise haben Dissertationen wie die des ehemaligen Verteidigungsministers zu Guttenberg die Bezeichnung „wissenschaftlich“ nicht verdient. Ohne Frage ist der Betrug an gewissenhafter Forschung zu ahnden. Was aber, wenn selbstgerechte und -süchtige, im Schutz der Anonymität harrende Hexenjäger Personen der Öffentlichkeit nach geringsten Fasern biografischer Verfehlungen abscannen und diese auf Gedeih und Verderb zu Fall bringen, nur weil es sich dabei „um die da oben“ handelt, nur weil so mancher dieses kurze Moment des anonymen Ruhms genießt, nur weil ihm danach ist?
Auch der Inhalt der gehackten Liebesmails zwischen der rumänischen EU-Abgeordneten Corina Cretu und dem ehemaligen US-Außenminister Colin Powell hat uns nicht zu interessieren. Mittlerweile sind sie jedoch frei zugänglich im Netz, als Ergebnis einer Hackerarbeit. Beachtung schenken dürften wir diesem Inhalt im Falle eines politischen und präzise entlarvten Skandals. In der Causa Powell/Cretu hingegen steckt der Skandal nicht im Inhalt, sondern in der Weiterleitung von Privatem selbst.
Schlaglichter des Öffentlichkeitstotalitarismus, wie er zunehmend unser Zusammenleben beherrscht: staatlich gelenkte Lauschangreifer, Profilneurotiker und mutige Aufklärer miss- oder gebrauchen diese Wege. So inakzeptabel es ist, wenn staatliche Goliaths Spähsoftware verwenden, um eigene und ausländische Bürger zu durchleuchten und sich über Gesetze und Verhältnismäßigkeiten hinwegzusetzen, so gefährlich ist es auch, jeden David vorschnell zum Volkshelden zu stilisieren. Die prinzipielle Notwendigkeit geheimdienstlicher Arbeit sollte genauso außer Frage stehen wie die Verantwortungslosigkeit mancher Whistleblower. Die oftmals berechtigte Aufdeckung von Gesetzesbrüchen in den Hinterzimmern der internationalen Diplomatie muss es ebenso geben, wie die Hinterzimmer selbst. Es gilt die Losung: Kritik statt blindem Eifer.
Datenbahnen mit jährlich steigenden Geschwindigkeitsraten erlauben es, jede noch so vermeintliche Schwäche zurückzuverfolgen, jedes Byte an Gerüchten abzusaugen, es zu Verdachtsmomenten aufzublähen und auf die Terabyte-Schnellstraße des Global Village wiederzukäuen. Spätestens ab hier verliert jeder digitale Akteur die Kontrolle über sein Handeln und Wissen, Banalitäten und Gerüchte verteilen sich wie aufwirbelnder digitaler Staub im Global Air. Der Überblick geht verloren, die Verantwortung aber besteht weiter. Der Mangel an Bewusstsein so mancher Akteure für diesen Knackpunkt liefert den Zündstoff für die kommenden Jahre. Aus ihm sind Rebellionen, Konflikte und diplomatische Verstimmungen hervorgegangen, mal begrüßenswert, mal nicht. Wie jede totalitäre Form, in der wir alle Machthaber sein können, wird sie auch den Nährboden für gänzlich analoge kriegerische Auseinandersetzungen bilden.
Die SPD propagiert in ihrem Bundestagswahlkampf über Merkels Reaktion auf den NSA-Skandal die Frage „Privatsphäre – Neuland für Merkel?“ Ein tumber Wahlspruch, so wird sich herausstellen. Das neue Verhältnis von Privatem und Öffentlichem ist Neuland für uns alle.