50 Seiten lang ist der Vorentwurf des Staatenberichts, der die Maßnahmen des Aktionsplans für Menschen mit Behinderung bewerten soll und der dem Land vorliegt. 50 Seiten, gespickt mit vielen Informationen darüber, was der Staat tut (oder tun soll), um die Situation von Behinderten zu verbessern.
Zur Erinnerung: 2011 ratifizierte Luxemburg die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie bietet den Rahmen für einen Maßnahmenkatalog, mit dem die Regierung und die ihr unterstellten Ministerien die Grundrechte von Menschen mit Behinderungen sichern wollen. Die Konvention schreibt vor, dass Erfolg oder Misserfolg dieser Instrumente nach zwei Jahren erstmalig bewertet und danach alle vier Jahre überprüft werden soll. Im Oktober 2013 soll der erste Staatenbericht zu den Vereinten Nationen nach Genf geschickt werden. Darum hat das Familienministerium unter der Leitung des verantwortlichen Koordinators Pierre Biver unterschiedliche Stellen, vom Bildungs-, über das Gesundheits- bis hin zum Transport- und dem Sozialversicherungsministerium gebeten, ihm zu melden, wie weit sie die in ihr Ressort fallenden Maßnahmen umgesetzt haben.
Das vorläufige Ergebnis sind besagte 50 Seiten, vorläufig deshalb, weil über den Inhalt des Berichts noch intern beraten wird. Eingeteilt ist der Bericht in verschiedene Aktionsfelder, so wie sie die Konvention und der daran anknüpfende Aktionsplan vorgeben. Da steht zu Beginn der Verfassungsgrundsatz, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Oder das Antidiskriminierungsgesetz von 2004, das Diskriminierung unter Strafe stellt und es Personen erlaubt, gerichtlich gegen Benachteiligungen vorzugehen. Man kann lesen, dass wer sich diskriminiert fühlt, sich juristisch beim Behindertendienst Info Handicap beraten lassen kann und dass die Organisation, neben anderen, über eine Klagerecht verfügt. Wie vielen Menschen es gelungen ist, erfolgreich gegen Diskriminierung vorzugehen, steht dort allerdings nicht.
Und das genau ist das Problem. Im Vorbericht befinden sich bisher kaum konkrete Angaben darüber, welche Maßnahmen tatsächlich umgesetzt wurden und wie gut sie greifen. Es werden zwar die rechtlichen Grundlagen genannt und verschiedene Hilfsdienste, aber wie effektiv sie sind und ob sie umgesetzt werden, dazu fehlen größtenteils Details. So wird unter dem Stichwort Bildung das Recht auf schulische Inklusion aufgeführt. Menschen mit Behinderungen haben, geradeso wie solche ohne, das Recht, dieselbe öffentliche Schule zu besuchen. Schulen müssen beispielsweise bei Prüfungen gegebenenfalls auf körperliche oder geistige Einschränkungen der Schüler eingehen, um faire Lernbedingungen für alle zu schaffen. Wie viele das machen, wie viele Behinderte wirklich in der Regelschule wie gut begleitet werden und ob sie ihre Schulkarriere ohne zusätzliche Behinderungen von außen machen können, steht dort nicht. Stattdessen befasst sich der Vorbericht ausgiebig mit Leistungsunterschieden zwischen den Geschlechtern, ohne dabei auf Behinderungen einzugehen. Der seltsame Fokus fiel auch Teilnehmern der Arbeitsgruppe Bildung auf, die gemeinsam mit anderen Arbeitsgruppen am 15. Juni in Berschbach bei Mersch die erste Version des Staatenberichts begutachteten und dazu Anmerkungen machten. Warum das dort stehe, fragte ein Beobachter verwundert. Die knappe Antwort des Vertreters aus dem Unterrichtsministeriums: Der Fragebogen, den das Ministerium für den Evaluationsbericht habe ausfüllen müssen, sehe das nunmal so vor.
„Es ist ein erster Wurf“ und die „vielen Darstellungen sind nicht allumfassend“, erklärt der verantwortliche Koordinator Pierre Biver dem Land auf Nachfrage. Man sei noch im Gange Rückmeldungen aus der „Zivilgesellschaft“ einzuarbeiten, „todsicher kommt konkretes Datenmaterial“ hinzu. Allerdings habe man nur 60 Seiten zur Verfügung, alles könne man daher nicht berücksichtigen, so Biver weiter.
Im Bericht ist festgehalten, dass behinderte Menschen, die auf einen Blindenhund oder sonst einem Assistenzhund angewiesen sind, das Recht haben, diesen an öffentliche Orte und in Einrichtungen mitzunehmen. Im Februar war einer behinderten Person mit Assistenzhund der Zutritt zur Filiale einer Pizzakette verweigert worden. Sogar der Hinweis der Polizei, ein Zugangsverbot werde mit 250 Euro Strafgeld belegt, konnte den Geschäftsführer nicht umstimmen. Nachdem sich die Geschichte über den diskriminierenden Vorfall wie ein Lauffeuer über Medien und soziale Netzwerke verbreitete, entschuldigte sich die Geschäftsführung schließlich. Der Bericht erwähnt diese offensichtliche Diskriminierung nicht. Musste es wirklich so weit kommen, fragte die Behinderteninitiative Nëmme mat eis, die den Vorfall öffentlich machte, damals kritisch.
Ihr aufmerksames Auge ist jetzt wieder gefragt: wenn es darum geht, den Regierungsbericht kritisch zu hinterfragen. Nëmme mat eis, ein gemeinnütziger Verein zur Selbsthilfe, in dem sich Behindertenorganisationen, wie die Taubstummenvereinigung Daaflux oder die Elteren a Pedagogen fir Integratioun, im Kontext der Verhandlungen um die Behindertenrechtskonvention zusammengeschlossen haben, kommt in den nächsten Monaten die Rolle zu, den so genannten Parallelbericht, auch Schattenbericht genannt, zu koordinieren. Ein erstes Treffen fand am 11. Juli gemeinsam mit der für das Monitoring der Konvention offiziell eingesetzten Menschenrechtskommission statt. Immerhin rund 30 Interessierte sind dem Aufruf gefolgt, sich an dem Schattenbericht zu beteiligen. Sie wollen ab September eine Marschroute festlegen, wie sie einen eigenen von staatlicher Beeinflussung unabhängigen Länderbericht aus der Sicht der Betroffenen verfassen können.
Denn auch das ist eine traurige Tatsache: Regierungsberichte werden oft schöngefärbt. Man will sich ja nicht selbst eine schlechte Note ausstellen. So geschehen bei einem Jugendbericht, als eine von unabhängigen Experten vorgelegte Version von der damaligen Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) geglättet wurde. Jacobs Nachfolger, Parteikollege Marc Spautz, hat bei seinem Amtsantritt versprochen, das Familienministerium im Jacobschen Geiste weiterzuführen – was bei manchen Behinderten gar nicht gut ankam. Immerhin scheint das Familienministerium mittlerweile besser verstanden zu haben, die Betroffenen stärker einzubeziehen. Über den Vorentwurf beraten rund 60 Vertreter aus Ministerien, Behindertenorganisationen sowie Betroffene gemeinsam. Die paternalistische Haltung von früher ist, nicht zuletzt dank des Drucks der Betroffenen, einem eher partizipativen Ansatz gewichen.
Allerdings sind der Mitwirkung oft enge Grenzen gesetzt: Als das Familienministerium vor gut zwei Jahren über den Aktionsplan beriet, gab es gleich zu Beginn die Forderung von Behindertenvereinen, konkrete Budgets und Fristen vorzusehen, bis wann die Maßnahmen umgesetzt werden sollten. Sie wurde in der Form nicht zurückbehalten. Als das Ministerium den Aktionsplan 2012 vorstellte, fehlten Angaben über finanzielle Mittel völlig. Die Forderung, in Luxemburg, ähnlich wie in Deutschland, eine Assistenz einzuführen, die es behinderten Menschen erlauben würde, ihr Leben in Eigenregie und außerhalb von Heimstrukturen zu leben, wurde ebenfalls nicht zurückbehalten. Beim seit vielen Jahren umkämpften Dauerbrenner, die schulische Inklusion, kam es zum Eklat: Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Bildung verlasen auf der Pressekonferenz der Ministerin eine eigene Stellungnahme, in der sie sich vom Aktionsplan distanzierten und kritisierten, dass ihre Vorschläge kaum gehört worden wären (siehe d’Land vom 13.04.2012).
Dass die Regierung die Situation der Behinderten besser darstellen könnte als sie tatsächlich ist, ist auch eine Sorge der Menschenrechtskommission. Sprecherin Fabienne Rössler jedenfalls verspricht, man werde genau schauen, was die Regierung bisher umgesetzt hat. Allerdings: Dafür braucht die Kommission Mittel, die sie nur begrenzt hat. Obwohl gefordert, und darin unterstützt durch das Centre pour l’égalité de traitement und der Ombudsperson, hat die ehrenamtlich arbeitende Kommission von der Regierung keinerlei zusätzlichen Mittel bekommen, um ihren Auftrag, die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention zu überwachen, zu erfüllen. Ein Jurist, der seit kurzer Zeit das Team verstärkt, war drei Jahre zuvor gefordert, lange bevor die Kommission als Monitoringstelle überhaupt im Gespräch war. Schlimmer noch: Von der 25-prozentigen Kürzung der Aufwandsentschädigungen für „Agents de l’État“, die in Kommissionen und Räten beisitzen, sind auch die ehrenamtlichen Mitglieder der Menschenrechtskommission betroffen.
Auch die Aktiven von Nëmme mat eis machen ihre Arbeit ehrenamtlich. Für den Schattenbericht müssen Gesetze gelesen, Fakten recherchiert, Statistiken zusammengestellt werden. Verwaltungen und Dienste müssen um Auskunft gebeten werden. Damit alle über die Texte diskutieren können, müssen diese ins Deutsche übersetzt werden. Der Schattenbericht ist, ebenso wie der Länderbericht, auf Französisch respektive Englisch, muss also ein weiteres Mal übersetzt werden. Die Schlüsselfrage ist daher, was angesichts der begrenzten Ressourcen überhaupt möglich sein wird. Nëmme mat eis hat beim Familienministerium um finanzielle Unterstützung gebeten. Eine Antwort steht laut NME-Mitglied Anne-Marie Ternes aber noch aus. An Zeit dürfte es den Engagierten indes nicht mangeln: Bei der Uno in Genf stauen sich derzeit die Staatenberichte. Die Experten dort kommen mit der Lektüre und Analyse kaum hinterher. Vieles spricht daher dafür, dass der Schattenbericht frühestens Anfang 2014 kommen wird.