D’Lëtzebuerger Land: Herr Generalstaatsanwalt, der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für unzulässig erklärt. Ist das auch das Ende der Luxemburger Vorratsdatenspeicherung?
Robert Biever: Die Grundsatzentscheidung des EuGH besagt im Kern: Erstens, es handelt sich bei der Vorratsdatenspeicherung um eine Massenspeicherung persönlicher Daten unbescholtener Bürger, die den Eindruck einer Totalüberwachung erwecken kann. Gleichwohl geht es bei der Vorratsdatenspeicherung nicht darum, ganze Kommunikationsinhalte zu speichern, sondern um Metadaten, wer also mit wem wo in Kontakt getreten ist. Zweitens sagt der EuGH, dass die Ziele, der Kampf gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität an und für sich, legitim sind. Weil aber die Speicherung von Kommunikationsdaten einen massiven Eingriff in die Freiheit und Privatsphäre des Einzelnen darstellt, muss die Verhältnismäßigkeit streng definiert sein. Der Hauptvorwurf der Richter gegenüber der Richtlinie ist, dass sie keine klaren Konditionen setzt.
Was heißt das für Luxemburg, dessen Gesetz auf der Richtlinie basiert?
Das Gesetz ist an und für sich gültig. Allerdings ist problematisch, dass die Regierung an einem Gesetz festhält, deren Grundlage gegen die Europäische Menschenrechtscharta verstößt – obschon das Luxemburger Gesetz restriktiver ist als die EU-Richtlinie, die der EuGH verworfen hat. So kann die Polizei hierzulande nur auf die Daten zurückgreifen, wenn ein Untersuchungsrichter dies zuvor genehmigt hat. Das heißt, in Luxemburg gilt der Richtervorbehalt, auch ein Einspruch gegen die Maßnahme ist möglich. Außerdem haben wir ein Kontrollgremium, die nationale Datenschutzkommission, die die Speicherung der Daten überwacht, auch wenn man sich vorstellen könnte, dass die Auflagen gegenüber den Telefonprovidern verschärft würden.
Der EuGH hat vor allem die Unverhältnismäßigkeit der Massendatenspeicherung ohne konkreten Verdachtsmoment angeprangert. Das trifft auf die Luxemburger Gesetzgebung genauso zu.
Persönlich denke ich, kann man diskutieren, bei welchen Straftaten die Vorratsdatenspeicherung zum Zuge kommt. Allerdings sehe ich eine Schwierigkeit: Der EuGH nennt Terrorismus und organisierte Kriminalität, aber was genau fällt darunter? Heutzutage wahrscheinlich die Kinderpornografie ebenso wie die Korruption, obwohl nicht immer klar ist, ob dahinter organisierte Banden stehen. Was ist, wenn jemand jemanden umbringt? Mord ist ein schweres Verbrechen. Gab es Mittäter oder nicht? Sie müssen selbstverständlich auch identifiziert werden. So muss man die Kontaktpersonen des Mörders eben feststellen. Der Begriff ’organisierte Kriminalität’ ist in dem Bezug eher eine kriminalistische Definition als ein streng juristisches Konzept.
Tatsache ist, dass hierzulande selbst bei einfachem Diebstahl die Vorratsdatenspeicherung zum Einsatz kommen kann.
Ich habe meine Zweifel, dass das künftig haltbar ist.
Wie müsste man den Einsatzbereich definieren, damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bliebe?
Unsere Strafprozessordnung definiert 32 verschiedene Fälle, in denen dem Untersuchungsrichter der Rückgriff auf verdeckte Ermittler erlaubt ist. Ähnlich ist es beim genetischen Fingerabdruck und bei der Geldwäsche. So ein Straftatenkatalog wäre für die Vorratsdatenspeicherung ebenfalls denkbar. Wichtig wäre jedoch, dass sich die EU-Länder auf europäischer Ebene abstimmen. Es gibt so viele Harmonisierungen in der Rechtshilfe, bei der Vorratsdatenspeicherung gibt es sie nicht. Dies ist nicht hinnehmbar in einem Raum von Freiheit, als den sich die EU begreift.
Die Polizei fürchtet, strengere Auflagen würden verschiedene Ermittlungen deutlich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen.
Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen den Freiheiten des Einzelnen und einer wirksamen Strafverfolgung zu finden. Die Bedeutung des Opfers in der Strafverfolgung hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Wenn nun den Strafverfolgungsbehörden neue Grenzen bei der Ermittlung auferlegt werden, muss sich die Öffentlichkeit darauf einstellen, dass bestimmte Straftaten vielleicht nicht mehr aufgeklärt werden können.
Der deutsche Bundesanwalt spricht sich für einen neuen gesetzlichen Rahmen für die dort auf Eis gelegte Vorratsdatenspeicherung aus. Zugleich betont er, Bundeskriminalamt und Polizei können auch ohne Vorratsdatenspeicherung wirksam ermitteln. Sie sagten vor Parlamentariern ebenfalls, die Polizei hätte „noch andere Mittel“, um Straftaten aufzuklären.
Die Vorratsdatenspeicherung ist kein Allheilmittel. Man darf daher nicht so tun, als würden neue, strengere Regeln sogleich jegliche Strafverfolgung unmöglich machen. Es gibt noch andere Instrumente, um Verbrechen zu bekämpfen. Aber die Vorratsdatenspeicherung ist ohne Frage ein sehr effektives Mittel.
Die damalige Justizministerin in Deutschland brachte den quick freeze als bürgerfreundlichere Methode ins Gespräch.
Der quick freeze ist keine Alternative zur Vorratsdatenspeicherung, weil er bedeutet, Daten eines Verdächtigten einzufrieren, den ich bereits kenne. Die Methode wirkt zudem nach vorne und nicht in die Vergangenheit. Bei dem Mann, der in Brüssel Menschen jüdischen Glaubens erschossen hat, sind wir uns wahrscheinlich einig, dass die Ermittler wissen müssen, mit wem er in Kontakt steht. Der EuGH nennt als Bedingung für die Datensammlung, dass sie nicht alle Bürger unter Generalverdacht stellen darf. Doch bei der Vorratsdatenspeicherung geht es genau darum: dass die Ermittler eben nicht immer wissen, wen sie suchen. Das bedeutet, dass Dritte in den Verdacht geraten können, falls sie Kontakt mit einer verdächtigen Person hatten. Hier muss ich, mit Verlaub, sagen, erscheint mir die Überlegung des EuGH nicht ganz nachvollziehbar: Es geht ja darum jemanden zu finden, den man nicht kennt, der aber in Kontakt mit einer Person steht, der ein Verbrechen vorgeworfen wird. Deshalb ist es unmöglich, meine ich, so wie der EuGH es verlangt, den Kreis der Personen, deren Daten gespeichert werden, vorab präzise zu bestimmen.
Ihr Beispiel handelt von einem Terroristen. Bei einem solchen Personenkreis wäre dem EuGH nach der Rückgriff auf die Vorratsdatenspeicherung legitim.
Aber wenn die Person zuvor nicht durch Straftaten oder ähnliches aufgefallen ist, woher weiß ich dann, dass sie ein Terrorist ist? Um klarzustellen: Auch heute kann die Polizei nicht nach Belieben Gebrauch von der Vorratsdatenspeicherung machen, sie muss einen begründeten Verdacht haben, wenn sie Verbindungsdaten beim Provider anfragt.
Einige deutsche Bundesländer erlauben den Einsatz von Trojanern im Rahmen der so genannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Gibt es das in Luxemburg, oder bestehen hierzu Überlegungen?
Nein. Aber es darf nicht sein, dass Verbrecher gesetzliche Lücken ausnutzen können und deswegen straffrei ausgehen. Gleichzeitig dürfen wir die bürgerlichen Freiheiten nicht aus dem Blick verlieren, die Ermittlungsmethoden müssen im Verhältnis stehen. Das ist ein schwieriger Spagat.
Studien im Ausland zufolge liegt die polizeiliche Aufklärungsquote durch die Vorratsdatenspeicherung nicht unbedingt höher.
Die Vorratsdatenspeicherung ist ein Instrument von vielen. Doch wenn es darum geht, Drogenringe aufzudecken oder die Verbreitung von Kinderpornografie aufzuklären, ist sie unabdingbar. Beim Flugpassagierabkommen werden die Daten von geschätzten 500 Millionen bis 1,5 Milliarden Menschen anlasslos gespeichert. Über diese Megadatenbanken wird kaum diskutiert.
Experten gehen davon aus, dass diese Abkommen nach dem EuGH-Urteil ebenfalls neu verhandelt werden müssen.
Sie sind ein Teil des Problems, das man sicherlich diskutieren muss. Ich will über die Frage der Freiheiten nicht einfach hinweggehen, sondern bin mir der schwierigen Problematik wohl bewusst. Wir wollen in einem Land leben, das demokratisch und sicher ist. Nicht nur sicher.
Andererseits hat Frankreich im Winter ein Gesetz verabschiedet, das die Geolokalisierung ohne Richtervorbehalt erlaubt. Auch der gespeicherte genetische Fingerabdruck ist ein starker Eingriff in die Rechte des Einzelnen.
Der DNA-Abgleich scheint akzeptiert, weil alle davon ausgehen, hier trifft es den Richtigen. Ich beobachte seit Längerem eine gewisse Schieflage in der Debatte: Auf der einen Seite gibt es begründete Bedenken über die Risiken von Massenüberwachung auf die Bürgerrechte. Auf der anderen Seite gibt der Einzelne über soziale Netzwerke, GPS-Systeme und ähnliches immer mehr persönliche Daten freiwillig an Firmen weiter, respektive stellt sie ins Netz.
Um den Forderungen des EuGH entgegenzukommen, wird diskutiert, die Dauer, wie lange Kommunikationsdaten gespeichert werden, auf drei Monate zu verkürzen. Die Polizei hält dagegen: Grenzüberschreitende Ermittlungen, die in Luxemburg die Regel sind, seien zeitintensiv, weil mehrere Behörden betroffen sind.
Die Durchschlagskraft nimmt mit gekürzten Speicherfristen ab, keine Frage. Korruptionsverfahren dauern oft mehrere Monate, da sind die Fristen heute schon recht kurz.
Spätestens seit Ihren Aussagen zu Fehlern in der Polizeiführung wird Ihnen ein gespanntes Verhältnis zur Polizei nachgesagt.
Meine Überlegungen zur Polizeiführung waren punktuell, ansonsten habe ich exzellente Beziehungen zur Polizei. Die Polizeiarbeit geschieht unter der Aufsicht der Generalstaatsanwaltschaft, die Ermittlungen werden von der Staatsanwaltschaft respektive vom Untersuchungsrichter geleitet. Wir führen Gespräche und wenn der Ton einmal rauer wird, darf man das nicht verallgemeinern. Dass Verschiedenes an die Öffentlichkeit geraten ist, war sehr ärgerlich.
Zurück zur Vorratsdatenspeicherung. Das Land hat nun einen grünen Justizminister. Déi Gréng haben sich auf nationaler und auf EU-Ebene gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Ihr Tipp, wie es weitergeht?
Der Datenschutz untersteht dem Staatsminister. Der Justizminister ist insofern betroffen, als die Vorratsdatenspeicherung und Strafverfolgung zusammenhängen. Ich habe den Justizminister Felix Braz stets als überlegten, gründlichen und realistischen Gesprächspartner erlebt.