Der Brief an den Vormundschaftsrichter sollte der letzte Hilferuf sein. Seit Jahren sieht Frau P.* zu, wie es ihrer Nachbarin, nennen wir sie Danielle*, immer schlechter geht. Nachdem sie nach einem schweren Unfall aus dem Koma erwachte, war die junge Frau nicht mehr wie vorher: Ihr Gehirn war geschädigt, sie würde nie einen Beruf erlernen und nie ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Als die Mutter verstarb – die Beziehung zu den Schwestern gestaltete sich schwierig –, war sie im geerbten Haus in Luxemburg-Stadt auf fremde Hilfe angewiesen. Das Gericht stellte ihr einen Vormund an die Seite.
Zunächst schien das zu helfen. Dann aber suchte sich Danielle, offenbar vom Alleinsein gelangweilt, Gesellschaft. Mit den neuen Freunden kamen die Probleme: Alkohol bis spät in die Nacht, Aggressionen, Ruhestörung. „In acht Monaten haben wir 26 Mal die Polizei gerufen”, erinnert sich Frau P. Und obwohl die Beamten zahlreiche Klagen protokollierten, der Tutor informiert wurde, verschlechterte sich der Zustand von Danielle zusehends. Die Nachbarn wandten sich an den Richter. „Wir wussten uns keinen anderen Rat mehr. Danielle rutschte immer weiter ab.“ Der Brief wurde vom damaligen Sozialschöffen Xavier Bettel an die Justiz weitergeleitet.
„(...) la mise sur tutelle ne permet pas de donner une résponse adéquate à ces problèmes. Il s’agit là de problèmes sociaux qui devront trouver une réponse d’ordre social“, hatte der Richter messerscharf analysiert. In der Tat versteht das Gesetz von 1982 unter Vormundschaft in erster Linie die Verwaltung der Rechtsgeschäfte unmündiger Personen durch einen gesetzlichen Vertreter. Daneben gibt es die vorübergehende Schutzbetreuung und die leichtere Erwachsenenpflegschaft (curatelle), bei der der Betreffende zusammen mit dem Vertreter entscheidet und viele seiner Rechte behält. Für Menschen aber, die wie Danielle nach einem schweren Unfall oder aufgrund von Krankheit nicht mehr zurechtkommen, geschweige den Überblick über ihre Finanzen haben, bestimmt der Richter einen Vormund, auch Tutor genannt. Nur reicht das oft nicht.
„Der Mensch lebt nicht vom Geld alleine. Danielle braucht Gesellschaft und Beschäftigung“, ist Frau P. überzeugt. Die wachsende Sorge um ihr Wohlergehen sei der Grund gewesen, so Frau P., warum sie sich eingemischt habe, nicht die Erwartung eigener Vorteile, wie ihr von einer Betreuerin später frech unterstellt wurde. „Die Betreuerin hat Danielle immer seltener besucht, die war wohl selbst überfordert“, empört sich Frau P.
„Wir versuchen, dass von uns betreute Personen die Hilfe bekommt, die sie brauchen. Aber das ist nicht so einfach“, sagt Guy Beissel von Tutelle an Curatelle Service Asbl (Tacs). Eine Person könne die Hilfe auch ablehnen. Dann muss der Betreuer abwägen. „Grundsätzlich greifen wir ein, wenn es zum Schutz der Person erforderlich ist“, betont Beissel. Neben Tacs, der sich auf Personen mit Behinderungen spezialisiert hat, gibt es noch den Service d’accompagnement tutélaire in Ettelbrück (Sat), der sich um Personen mit psychischen Erkrankungen kümmert, sowie die Ligue médico-sociale und den Service central d’assistance sociale (Scas). Die Kosten des Einsatzes übernimmt, je nach Einkommen, der Betroffene oder der Staat.
4 000 Fälle habe er zu betreuen, hatte Sandro Luci in einem Interview mit der Wochenzeitung Woxx vor einem Jahr gesagt. Er ist der einzige Vormundschaftsrichter am Luxemburger Bezirksgericht. Das Land hätte ihn gerne zu seiner Arbeitsweise und seinem Aufgabenbereich befragt, aber Luci ist verreist, eine schriftliche Anfrage beantwortete er bis Redaktionsschluss nicht.
Üblicherweise geben Luci und sein Richterkollege in Diekrich die Vormundschaft an Angehörige. Geht das aus irgendwelchen Gründen nicht, etwa weil die Familie zerstritten ist, übernehmen Dritte die Aufgabe. Das können Anwälte sein oder spezialisierte Dienste. „Unser Dienst bietet mehr als nur die Führung der Geschäfte“, sagt Monique Rodesch von der Ligue médico-sociale. „Oft braucht der Betreffende weitere Hilfen, zum Beispiel gesundheitlicher Natur.“ Neben Sozialarbeiter kommen dann Pfleger nach Hause, oder ein Putzdienst.
Vorbedingung ist, dass die Person dazu selbst nicht mehr in der Lage ist. Dies festzustellen, ist Aufgabe des Richters, der sich auf ein ärztliches Gutachten stützt. Die Vormundschaft ist einer der schwersten Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte: Der gesetzliche Vertreter bestimmt über das Vermögen, regelt, wie viel Geld sein Schützling erhält. Als Tutor soll er dies im Sinne der entmündigten Person tun, muss also deren Willen ermitteln und erfüllen. So sieht es das Gesetz vor, es obliegt dem Tutor, dies gemeinsam mit der betreffenden Person und seinem Umfeld herauszufinden. Mindestens einmal im Jahr muss der Tutor beim Gericht Rechenschaft ablegen. Der Richter ist verantwortlich für die Kontrolle. Bloß: Kann ein Richter, der eigenen Aussagen zufolge 4 000 Fälle zu betreuen hat (allein 2012-2013 wurde 292 neue Vormundschaftsfälle entschieden), allen angemessen Rechnung tragen?
Nicht nur Anwälte bezweifeln das und wünschen sich mehr Richter und mehr Kontrollen. „Das ist eine Riesenverantwortung, die da auf den Schultern des Richters lastet“, sagt die Rechtsanwältin Claudia Monti. Auch bei vielen Tutoren stapeln sich die Fälle. Noch 2007 war im Tätigkeitsbericht des Justizministeriums zu lesen, wie schwierig es sei, adäquate Tutoren zu finden. Inzwischen hat sich die Situation verbessert, „aber das sagt nichts über die Qualität der Betreuung aus“, gibt Monti zu bedenken. Zudem steigt die Zahl der Vormundschaften weiter. Die Personaldecke der Dienste ist dünn. Der Scas musste 2012 380 neue Fälle bearbeiten – mit fünf Sacharbeitern. Über die Hälfte der Vormundschaften werden von Anwälten übernommen. „Die meisten beschränken ihren Einsatz auf die Führung der Geschäfte“, weiß Monti. So kommt es, dass nicht wenige ihre Klienten vielleicht nur ein, zwei Mal im Jahr sehen. Wenn überhaupt.
Monti plädiert für eine systematische soziale Untersuchung: Denn obwohl es laut Justizministerium keine „typische Population“ gibt, „haben viele Entmündigte neben gesundheitlichen auch soziale Probleme“, so die Anwältin. Da würde es helfen, wenn „ich im sozio-psychologischen Bereich geschult wäre“. Weder die Tutoren, noch die Richter werden in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet, was sie menschlich erwartet. „Paragrafen lernen wir, aber kein Einfühlungsvermögen oder wie man Menschen mit psychischen Problemen in juristische Entscheidungen einbindet“, bedauert Monti. Demenzkranke und Menschen mit Psychosen oder Suchterkrankungen machen aber den größten – und wachsenden – Teil der erwachsenden Vormundschaften aus.
In Deutschland haben sich Richter, Berufsvertreter und Sozialarbeiter zum Betreuungsgerichtstag zusammengefunden, bei dem sie regelmäßig und auf Augenhöhe über rechtliche Probleme im Umgang mit betreuten Personen beraten und gegebenenfalls Gesetzesänderungen vorschlagen. Das alte Vormundschaftsrecht wurde dort vor rund zwanzig Jahren durch ein moderneres Betreuungsrecht abgelöst. In Luxemburg fehlt eine solche Plattform. Im November 2012 trafen sich Vertreter der Justiz, Anwälte und Vertreter von Behindertenorganisationen, um über eine Reform zu beraten. Im aktuellen Gesetz sei „vieles nicht geklärt oder zu vage, so dass der Vormundschaftsrichter sehr viel (vielleicht zu viel) Handlungsspielraum hat“, heißt es vorsichtig im Sitzungsbericht. Es bestehen offenbar Differenzen darüber, ob ein Richter mehr Entscheidungsgewalt, etwa über eine Einweisung in ein Pflegeheim oder eine medizinische Operation bekommen, oder wer sonst über so einschneidende Maßnahmen verfügen soll.
Einig sind sich die Akteure, dass das antiquierte 1982-er-Gesetz dringend überarbeitet gehört. Der Selbsthilfeverein Nëmme mat eis, in dem sich Menschen mit Behinderungen zusammengeschlossen haben, forderte wiederholt, zuletzt gemeinsam mit déi jonk Gréng, dass Menschen unter „Tutelle“ auch wählen dürfen. Als das Land zum Fototermin fuhr, klagte eine behinderte Frau, die einen gesetzlichen Vormund hat: „Ich interessiere mich für Politik, warum darf ich dann nicht wählen?“
Das fehlende Wahlrecht ist einer von vielen Punkten, die der vorige Justizminister noch versprochen hatte, zu ändern. Allerdings schleppt sich die Verfassungsreform dahin, und auch die Vorbereitungen für ein neues Vormundschaftsrecht liegen derzeit auf Eis: Sobald der neue Justizminister Félix Braz (Déi Gréng) in etwa einem Monat alle Themen gesichtet habe, würden ein Arbeitsplan erstellt und Prioritäten definiert, so Jeannot Berg, Regierungsrat im Justizministerium. Weil aber auf der Liste so dringende Mammutprojekte wie die Justiz- und die Strafvollzugsreform stehen, kann das dauern.
Die Behindertenselbsthilfegruppen befürchten, ein neuer Entwurf könnte hinter ihren Erwartungen zurückfallen. „Luxemburg hat Nachholbedarf“, sagte Patrick Hurst von Nëmme mat eis. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention wurden die Rechte der Behinderten zwar gestärkt, aber bisher vor allem auf dem Papier. Und von Hilfe zur Selbsthilfe und Partizipation ist im veralteten Luxemburger Vormundschaftsrecht nicht viel die Rede.
„Wir versuchen, die Betroffenen so weit wie möglich zu beteiligen“, verspricht Guy Beissel. Es sind aber nicht nur die Entmündigten selbst, deren Leben sich per richterlicher Verfügung fundamental verändert. Auch Angehörige klagen, nicht genügend in die Beratungen von Richter und Tutoren einbezogen zu werden. „Wenn ich versuche, den Anwalt anzurufen, der meinen alkoholkranken Bruder betreut, bekomme ich ihn nie selbst ans Telefon. Sogar bei wichtigen Familienangelegenheiten nicht“, empört sich eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Selbst im sozialen Bereich tätig, schockiert sie besonders die Arroganz und Distanz der Justiz: „Der Richter, der zum Verkauf des gemeinsam geerbten Elternhauses erschienen war, hat dem Tutor die Hand gegeben, uns aber keines Blickes gewürdigt, geschweige ein Wort mit uns gesprochen.“ Andererseits habe der Tutor das Heim, in dem der kranke Bruder lebt, „kaum je von innen gesehen“. Stehen Arzttermine an, wende sich das Heimpersonal lieber an die Geschwister. Das Pflegepersonal nimmt sie von ihrer Kritik ausdrücklich aus, nicht aber den Anwalt und das Gericht: „Da fehlt es nicht nur an Menschlichkeit, schon der Umgangston ist oftmals ungeheuerlich“, empört sie sich. Offenbar sei nicht immer klar, wie einschneidend sämtliche Beteiligten eine Vormundschaft erlebten.
Laut Woxx-Interview werden im Bezirk Luxemburg Erwachsene nur entmündigt, „wenn sich die Probleme allzu sehr häufen“. Allerdings steht im Gesetz nicht ausdrücklich, dass eine Person nur als ultima ratio entmündigt werden darf, wenn mildere Maßnahmen nicht greifen. Auch bei der jährlichen Kontrolle gibt es Probleme: Er könne nicht „jedes Detail nachprüfen“, sondern mache „Stichproben bei Dossiers, bei denen ich weiß, hier muss ich aufpassen“, sagte Luci damals, der selber „Unschärfen“ und „dringenden Handlungsbedarf“ feststellte.
Frau P. hat nach dem folgenlosen Schreiben erstmal aufgegeben. Neuerdings gehen bei Danielle wieder fremde Personen ein und aus. „Die Rollläden sind die meiste Zeit unten. Danielle kommt auch nicht mehr, wie sonst bei gutem Wetter, in den Garten“, sorgt sich Frau P. Stattdessen ertöne nachts merkwürdiges Klopfen. Männer brächten junge ausländische Frauen ins Haus, die dort zwei, drei Wochen wohnen, um dann wieder zu verschwinden. Eine Sozialarbeiterin habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen. „Soll ich noch einen Brief schreiben?“, fragt sie ratlos. „Aber was nützt das schon?“