Es fing damit an, dass Etienne Schneider, Ökonom und Wirtschaftsminister (LSAP), während eines Sommerurlaubs ein Buch las. Dann empfahl er seinen Beamten, es zu lesen. The third industrial revolution – how lateral power is transforming energy, the economy and the world, heißt das Buch. Geschrieben hat es Jeremy Rifkin, Ökonom, Autor und Vortragsreisender, dessen Theorien über das nahende Ende des Kapitalismus und die Geburt der Ökonomie des Teilens nach der großen Wirtschaftskrise über den Bestseller-Status hinaus wie die Botschaft der Erlösung gefeiert wurden. Was zuallererst beweist, dass Jeremy Rifkin, President der TIR Consulting Group, sehr großes Talent zur Selbstvermarktung hat.
Auch der Ökonom Carlo Thelen, Generaldirektor der Handelskammer, hatte von Rifkin gehört. Und so wurden er und Etienne Schneider sich während eines Ausfluges auf die Weltausstellung in Mailand einig, Herrn Rifkin zu engagieren, um zu studieren, wie die „dritte industrielle Revolution Made in Luxembourg“ (dixit Carlo Thelen) aussehen könnte. Er erwartet sich, dass „daraus etwas entsteht, das gut fürs Nation Branding ist“, so Thelen, der vergangenen Donnerstag begeistert von Speed-Dating zwischen innovativen Firmen in der französischen Region Nord-Pas de Calais erzählte, die Rifkin schon einen Masterplan erstellen ließ, und deshalb finanziert die Handelskammer die Kosten der Studie von 450 000 Euro zur Hälfte mit.
Der Berufsredner Rifkin pries das kleine Großherzogtum bei der Vorstellung des Projektes vergangenen Donnerstag als „ersten Nationalstaat in Europa“, als „kleines Land“, dem eine „große Rolle“ zukomme, denn was man hier lerne, könne anderswo angewandt werden. Er malte Luxemburg als „Laboratorium zum Lernen“ – LLL – an die Wand.
Um was es geht, erklärte der Amerikaner in etwa wie folgt: Seit 20 Jahren sinke die Produktivität in allen Ländern. Deshalb sei die Zeit reif für die dritte Industrie-Revolution. Für eine industrielle Revolution müssten jeweils drei Faktoren zusammenkommen: Neue Energiequellen, neue Transportmethoden und neue Kommunikationstechnologien – bei den beiden letzten Revolutionen, waren das Kohle, Erdöl, die Eisenbahn, der Verbrennungsmotor, Druckerpressen und das Telefon. Die anstehende Umwälzung werde den Wechsel von fossilen auf erneuerbare Energiequellen bringen, autonom fahrende Fahrzeuge böten neue Transportmöglichkeiten und das Internet biete die Möglichkeit, nicht nur Menschen, sondern Dinge miteinander zu vernetzen.
Dabei stellten sich eine ganze Reihe Fragen, so Rifkin, wie die nach der Netzneutralität beispielsweise oder dem Cyber-Terrorismus und dem Datenschutz. Es gebe aber auch neue Möglichkeiten, durch die Vernetzung entstünden neue Mengen an Information, die in einem kollaborativen System für wenig Geld zur Verfügung stünden, um ausgewertet und ausgebeutet zu werden. Das steigere die Produktivität auf dem Weg in die Ökonomie des Teilens.
Weil Ökonomie des Teilens eher nach Tauschbörsen für selbstgezogenes Gemüse, abgelegter Kleidung oder Muttermilch klingt, also eher nach Rückschritt als nach Zukunftsmodell, in dem alle eine bezahlte Beschäftigung finden, relativierte Rifkin sich am Donnerstag gleich selbst. Ganz werde die kapitalistische Gesellschaft nicht verschwinden, aber sie habe die sharing economy „geboren“ und ihr ein wenig Platz eingeräumt. Ja, er selbst sei ein regelmäßiger Nutzer von Wikipedia. Und weil auch Etienne Schneider lieber Porsche Cayenne fährt und Rolls Royce sammelt, sagt auch er, wenn man ihn fragt, ob er wirklich an das Modell der sharing economy glaubt, vorsichtshalber, sie sei „ein Puzzlestück“ des neuen Zukunftsmodells, das mit Hilfe Rifkins gefunden werden soll.
Der Minister sieht das so: Die Verbraucher wechseln ihre Konsummuster. Sie essen lokal produziertes Bio-Gemüse. Sie kaufen im Internet Kleider, Bücher, Musik, bestellen übers Smartphone ein Taxi. Die Digitalisierung, so Schneider, sei der Schlüssel bei diesem Wandel. Mit Rifkin, erklärt Tom Eischen Direktor für Energiefragen im Ministerium, wolle man die Megatrends identifizieren, um herauszufinden, wie Staat und Wirtschaft auf den Wandel reagieren können. Für Ersteren gehe es darum, den regulatorischen Rahmen anzupassen, für Letztere darum, ihr Waren- und Dienstleistungsangebot zu erneuern.
Von besonderem Interesse sind in der Chefetage des Wirtschaftsministeriums allerdings die Energiefragen. Wenn sich künftig jeder Haushalt mit Photovoltaik- oder Windanlagen und Wärmepumpen selbst mit Energie versorge, erklärt Tom Eischen, stelle sich nicht nur die Frage, wie das Netz die Schwankungen bei bedecktem Himmel, nachts oder bei Windstille, beziehungsweise in Spitzenzeiten ausgleichen kann. „Werden diese Haushalte überhaupt noch ans Netz angeschlossen“, fragt er, „zahlen sie auf dem verbrauchten Strom Steuern? Wie wird ihr Verbrauch mit ihrer Produktion abgerechnet?“ Auf diese Fragen gebe es auch auf europäischer Ebene keine Antworten, sagt Eischen. Würden sie nicht gefunden, sei das ein ernsthaftes Risiko für die Energiewende.
Etienne Schneider spricht gerne vom intelligenten Tiefkühler, der über ein intelligentes Stromnetz gesteuert dann anspringt, wenn es Überkapazitäten im Netz gibt und abschaltet, wenns knapp wird. Und von einer großen Elektro-Auto-Flotte, in deren Batterien ebenfalls je nach Bedarf Strom gelagert und abgezapft werden kann. Es ist sein Versuch, das komplexe Thema der Energiewende auf die Verbraucherebene herunterzubrechen. Auf Wirtschaftsebene gibt es in Luxemburg und Nachbarschaft ebenfalls Beispiele dafür, wie Konzerne den Zug verpassen können: Der deutsche Energieriese RWE, der auf fossile und nukleare Energie gesetzt hat, muss nach Fukushima seine Enovos-Anteile verkaufen, um die Kasse aufzubessern. Die Enovos-Tochter Twinerg, das Gasturbinen-Werk in Esch, das nicht mehr kostendeckend produzieren kann, hat einen Zweijahresvertrag mit Belgien abschließen können. Das Nachbarland zahlt für den Unterhalt, damit das Werk auf Standby bleibt, falls die Kapazitäten in Belgien nicht ausreichen. Was danach kommt, bleibt ungewiss.
Dass ausgerechnet Luxemburg, das seinen europäischen Klimazielen immer hinterherhinkt, sich durch den Tanktourismus vom Verbrauch fossiler Energien nährt, und wegen des Bankgeheimnisses und der Steuer-Rulings eher als dem Großkapital dienlicher Schmarotzer-Staat Schlagzeilen gemacht hat denn durch seine kollektive barmherzige Mentalität des Teilens, nun Vorbild beim Übergang in eine „kohlenstofffreie“ Zukunft werden soll, mag vielen wie ein Widerspruch vorkommen. Nicht aber Etienne Schneider.
„Wir haben in Luxemburg als Staat einen großen Leistungsvorschub erbracht“, sagt der Wirtschaftsminister. Er zählt auf: Ab 2017 dürfen nur noch Häuser der Energieklasse A gebaut werden, danach folgen die „Positiv-Energie-Häuser“, die mehr Energie produzieren als sie verbrauchen. Bis 2020 sollen alle Haushalte über einen Zugang zum Glasfasernetz mit einer Verbindungsgeschwindigkeit von einem Gigabit pro Sekunde angeschlossen sein, bis 2019 alle Haushalte mit einem intelligenten Stromzähler und bis 2020 mit einem intelligenten Gaszähler ausgestattet sein. Bis dahin soll es im Land außerdem 850 Ladestellen für Elektroautos geben und eine Flotte von 40 000 Elektroautos auf den Straßen des Landes lautlos und schadstofffrei dahin gleiten.
Das zahle sich aus, erklärt Mario Grotz, Regierungsrat und Direktor der Abteilung für Forschung, Geistiges Eigentum und neue Technologien im Wirtschaftsministerium. Ausländische Firmen würden aufgrund der flächendeckenden Ausstattung an Luxemburg herantreten, um neue Technologien und Systeme zu erproben, weil die Zahl der Ansprechpartner begrenzt sei. Mit dem Tesla-Chef Elon Musk, erzählt Etienne Schneider, sei das Ministerium in Gesprächen darüber, Luxemburg zum Testgelände für autonom fahrende Autos in Europa zu machen. „Sie testen das ja in Amerika. Aber sie wissen auch, dass in Europa mit seinen Altstädten und verwinkelten Straßen der Verkehr anders ist als in den USA mit dem quadratischen Straßenmuster.“ Sollte sich das konkretisieren, müssten nicht nur Verkehrsampeln und Kreuzungen mit allerhand Sensoren ausgestattet, sondern auch die Straßenverkehrsordnung geändert werden, sagt Schneider, die vorschreibe, dass es in einem Fahrzeug einen Fahrer geben muss.
Weil die Arbeiten an der Infrastruktur laufen, seien die Voraussetzungen für die dritte industrielle Revolution in Luxemburg gegeben, ist Schneider überzeugt. Die Erkenntnisse, die in der Zusammenarbeit mit Rifkin und seinem Experten-Team gefunden werden könnten, dürften ein „Exportschlager“ werden, hofft er. Es gehe hier um ein „völlig neues Wirtschaftsmodell“.
Wie weit die Überlegungen tatsächlich gehen werden, bleibt abzuwarten. Ob in der Strategie, die am Ende des Prozesses herauskommt, auch stehen wird, was der Staat besteuern soll, wenn die Verbraucher ihre Daten und die Arbeitnehmer ihr Wissen, ihre Kompetenzen umsonst miteinander teilen, anstatt dafür einen Lohn entgegen zu nehmen? Rifkin sehe eine Übergangszeit von 40 Jahren vor, erklärt Mario Grotz, in der noch die Waren produziert werden müssten, die gebraucht werden, um seine Zukunftsvision wahr werden zu lassen – eine lange Übergangszeit. Was danach kommt? Das wisse ohnehin niemand. Dabei weiß doch in Luxemburg jeder, dass wir bis dahin längst in die Rentenmauer gerannt sein sollen...