Spada, Luc: Abführung der lebenswichtigen Mittelmäßigkeit

Du und ich und wir und egal. Blah blah

d'Lëtzebuerger Land du 09.08.2013

Ein Sommertag. Sechsunddreißig Grad. Raus zum See. Pack’ die Badehose ein. Aber es fehlt das kleine Schwesterlein. Ein dröger Tag. Die Hitze drückt. Der Asphalt glüht. Augustsommersonntag in der Hauptstadt. Der Tag bringt Lethargie. Kein Hauch eines Windes. Kein Vogelgezwitscher. Ein Sonntag. Flirrend. Überhitzt. Gelebt. Ein Tag eben. Was später geschehen wird: Die Hausgemeinschaft ruft die Feuerwehr. Der Starkregen ließ den Keller absaufen. Mitarbeiterinnen vom Ordnungsamt entfernen die ersten Wahlplakate, die unrechtmäßig an Verkehrslichtzeichen angebracht wurden. Die Fragen, warum die Menschheit alkoholfreies Weizenbier trinkt, ob sozialkritische Literatur Einfluss auf den Verlauf der Menschheitsgeschichte hat und warum Gaststättentische immer wackeln, werden auch an diesem Abend unbeantwortet bleiben. Dazwischen gibt es den Versuch der Abführung der lebenswichtigen Mittelmäßigkeit beizuwohnen, durchzustehen und aufzuarbeiten. Ein Selbstversuch mit einem Remix von Luc Spada.

Ein Umschlag aus Luxemburg steckte vor Wochen im Briefkasten. Ein Buch darin. „Abführung der lebenswichtigen Mittelmäßigkeit. Ein Remix von Luc Spada.“ Eine Notiz anbei: „Kannst du das bitte rezensieren. Danke.“ „Ja“, antworte ich und blicke durch die kahlen Bäume in den Himmel über Berlin. Ich habe Spada während eines traurigen Moments auf der Frankfurter Buchmesse erlebt. Der Mensch hat meine Sympathien. Seitdem liegt die Mittelmäßigkeit oben auf dem Stapel der unbedingt zu lesenden Bücher. Hin und wieder kommen Mails aus Luxemburg, die den Text einfordern, zunächst freundlich, dann bestimmt, dann per Pistole auf die Brust, aber immer mit diesem luxemburgischen Charme, der in der Berliner Rauheit klingt wie Kochkäse, der vom Brot tropft, zerfließend auf heißem Teerbelag, auf dem harten, grauen, unansehnlichen Straßengrund dieser Stadt. Und unter dem Asphalt das Meer der Sehn- und Sehsüchte. Und auf dem Stapel die Bücher, noch zu lesen.

In der Zeit wurde es von darunterliegenden Büchern überholt. Sogar von Bernward Vespers Reise, der buchgewordene LSD-Trip des Ehemanns von Gudrun Ensslin. Siebzigerjahre Literatur als Bewusstseinsstromerzählung. Vesper, Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper, probiert LSD und beschreibt seinen Trip durch einen Münchner Park im Morgengrauen. Ein Werk, das auch zum Poetry Slam taugt, an unendlich tristen Tagen. Die Reise hat die Mittelmäßigkeit überholt.

Sie reiste mit nach Paris, als dachte ich wirklich, in der Metropole Zeit zu finden, das Werk zu lesen. Das Buch wanderte unberührt zurück auf den Stapel der unbedingt zu lesenden, sehr wichtigen Wälzer. Es war das am unbedingtesten zu lesende, außerordentlich hyperwichtige Buch. Hin und wieder schaute ich hinein. Las Sätze: „wieso sterben die fotzen nicht?“ „Ich will gefickt werden.“ „Ich muss dringend pissen.“ Ich lege es zurück. Die Mittelmäßigkeit. Ganz oben. Dann kamen Die Nöte des wahren Polizisten von Robert Bolaño, Wie es wirklich war von Martin Kippenberger und vor allem aber Pol Pots Lächeln von Peter Fröberg Idling. Sie alle überholten den Spada. Sie schafften es gar nicht erst auf den Stapel. Sie wurden direkt gelesen. Dann eine Mail aus der Redaktion. Mit Termin. Ich malte den Kalender rot an, umkringelte Tag und Wochentag. Keine Verlängerung. Da half kein Berliner Charme mehr, der in Luxemburg klingt wie die Anweisung einer Stadtpolizistin, den Fahrschein vor Reiseantritt zu entwerten.

Vor den Termin hat sich ein wunderbares Sommerwochenende gedrängelt. Mit 36 Grad. Mit einer Landpartie. Mit einer unvergleichlich schönen Soiree in der Hitze der Nacht, die gefolgt wurde von Ultimo. Dem letzten Tag. Textabgabe. Die Mittelmäßigkeit. Die nächsten Sätze: „Ich bin völlig unbewohnt.“ „Ich muss kotzen. Ich kriege keine Luft mehr.“ Da muss ich durch. Jule ruft an. Anton ruft an. Raus zum See, fragen sie? Nein, das Buch, antworte ich. Felix ruft an. See? Buch! „Okay“, antwortet er, „ich leide mit.“ Verabredung um zwölf am Breslauer Platz. Eigentlich müssten wir zum Senefelder, erkläre ich Felix, denn der spielt im Buch eine entscheidende Rolle. Dort werde wohl die Frage beantworte, warum „fotzen nicht sterben“. Aber wer will schon nach Touri-Berlin? An einem heißen Sonntag. Mit der Mittelmäßigkeit im Gepäck?

„Das ist also DAS Buch.“„Ja.“„Aber das ist ja in Deutsch.“„Ja.“„Aber der ist doch Luxemburger? Warum poetriert der nicht in Luxemburgisch?“„Weil ihn dann seine Landsleute verstehen. Ich hätte gerne ein alkoholfreies Weizen!“„Warum trinkt alle Welt zurzeit alkoholfreies Weizen?“„Wieso sterben die Fotzen nicht?“„Warum sollten die Fotzen überhaupt sterben? Warum schreibt ein Mensch das als ersten Satz eines Buches?“

„Das ist sehr Else Buschheuer. Schreib’ zehn mal ‚ficken’ und andere ach so obszöne Worte und das Buch verkauft sich wie geschnitten Brot. Weil das so hipp und so angesagt ist, dass sich die Frage nach Qualität und Anspruch verbieten. Das geht und ging. In der Provinz und in den Neunzigern. Schrei drei Mal ‚ficken’ im Fernsehen und du hast die Quote, nenn’ einen prominenten Namen dazu und du hast noch mehr Quote. Das ist die Aufrührung der Mittelmäßigkeit.“

„Hat Luxemburg nur einen Slam-Poeten?“„Anzunehmen. Die Singularität hat ihre Vorteile. Du wirst schnell zum Volkshelden. Mangels Masse. Und Volksheldentum verhindert Kritikfähigkeit. Sanfte Gegenworte werden zur Nestbeschmutzung. “„Als wärest du ein Mensch der sanften Worte! Vielleicht ist nicht genug Platz in dem Land. Die haben ja auch nur einen König.“„Großherzog.“„Hat der das Buch gelesen?“

Zitat: „Ich bin der Poet der traurigen Hoffnung. Wie poetisch. Ihr werdet so lange leiden, bis ihr lebt. Dann dürft ihr sterben.“ Die Mittelmäßigkeit wird stark betont in diesem Werk. Von einem Autor, „der zur Zeit noch in Berlin lebt, […] Ende des Jahres 2013 einen zweiten Wohnsitz in der Schweiz beziehen“ wird. Luxemburg und Berlin werden sich darüber Gedanken machen. Müssen.

„Ist Slam Poetry sozialkritisch?“„Sozialkritisch. Ist die Frage ‚Wieso sterben die Fotzen nicht’ sozialkritisch im Kontext der Gleichstellungsdebatte als eine Metapher für den zurückkehrenden Machismo zu werten, der jahrelang durch den Differenzfeminismus unterdrückt wurde?“„Müsste es nicht eigentlich richtig heißen ‚Warum sterben die Fotzen nicht?’“

Der Verlag schreibt zur Mittelmäßigkeit: „Sie haben mit Sicherheit lange gewartet, falls Sie nicht lange gewartet haben, hat es sich trotzdem gelohnt.“ Wir haben gewartet. Nicht zu lange. Wir haben gerne gewartet, an diesem Sommersonntag. Wir haben in die Sonne geblinzelt. Dann kam das Bier kam und löschte den Durst. Der Blick streift die Hauptstraße. Leere. Ein perfekt kühles Weizen. Alkoholfrei. Mit gutem Gewissen. Als Schaumkrone. Tulpen gibt es nur beim Pils. Parteisoldaten bringen plötzlich Hektik in den Nachmittag.

„Schau da, die ersten Wahlplakate.“„Würdest du „Wieso sterben die Fotzen nicht?“ auf ein Plakat drucken und in der Stadt verteilen?“„Nein.“„Aber als Buch drucken!“„Ich habe das Buch weder geschrieben, noch gedruckt.“„Aber gelesen.“„Ja. Fertig.“„Also: Mit dem Fotzen-Sterben-Spruch auf dem Plakat kriegst du doch mehr Aufmerksamkeit als mit Mindestlohn, Kita-Plätzen, Bildungsgerechtigkeit und der grinsenden Frau, die da für die Piraten hängt.“„Sicher. Und mit dem Plakat brauchst du keine Seiten an Rechtfertigungen und Antworten zu bieten.“„Steht im Buch eine Antwort?“„Können wir den Satz „Du und ich und wir und egal“ auf Seite 36 als solche durchgehen lassen? Ansonsten bietet sich noch an: ‚Erst schreien, dann umbringen’ auf Seite 112 oder ‚Ich werde mir fehlen, aber das ist gut so’ auf Seite 102.“„Nicht immer dieser Wowereit-Spruch. Hat auch schon einen Bart, einen Mario Barth. Der Tisch wackelt. Warum wackeln so viele Kneipentische? Bei mir zuhause wackelt kein einziger Tisch. Bei mir zuhause würde auch nie ein Tisch wackeln. Aber in Kneipen ist das selbstverständlich, dass ein Tisch wackelt. Dann ruft man die Bedienung, die klemmt Bierdeckel drunter und sagt, dass der Tisch nicht mehr wackelt, aber der Tisch wackelt noch immer. Lohnt sich das Buch oder kann ich es unterlegen?“

Der Tag plätschert dahin. Dunkle Wolken ziehen auf. Das alkoholfreie Weizen ist aus. Die Bedienung spendiert eine Runde Kümmerling. Lohnt sich das Buch? Luc Spada zu lesen gleicht einem Spätpubertierenden beim Aufdrücken seiner Eiterpickel zuzuschauen. Die Ergüsse interessieren hier wie da allein nur den Protagonisten, der sich selbst malträtiert. Aber muss die Menschheit davon Zeuge sein? Zuschauen? Darüber Lesen? Slam Poetry ist eine darstellende Kunst, keine schreibende. Von Spada vorgetragen werden die Sätze irgendeinen tieferen Sinn, Bedeutung oder Ironie haben. Sie haben auf der Bühne ihre Kraft und ihre Wucht. Für den Hauch des Augenblicks. Aber nicht im Buch. Hier lesen sich die 128 Seiten wie ein einziger Schrei eines Egomanen nach Aufmerksamkeit oder aus Angst vor einem neu entdeckten Eiterpickel. Der Pickel ist zwei Tage später – dank guter Pflege – verschwunden. Literatur erhebt einen Ewigkeitsanspruch. Es beginnt zu regnen.

Frage an die Redaktion: „Geht die Überschrift ‚Fotzensterben’ durch?“Antwort aus der Redaktion: „Nein.“

Luc Spada: Abführung der lebenswichtigen Mittelmäßigkeit. Ein Remix; Editions Binsfeld, 2013; 128 Seiten; ISBN 978-2-87954-265-2; 18,90 Euro.
Martin Theobald
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