Bei den vorgezogenen Kammerwahlen am 20. Oktober vergangenen Jahres wählten 34 576 Wahlberechtigte keinen Abgeordneten. Das macht 14 Prozent der Personen aus, die in den Wahllisten eingetragen waren. Würde dies nicht völlig abwegig als Ausdruck einer politischen Entscheidung oder der politischen Entscheidungen beigemessenen Prioritäten angesehen, müssten neun der 60 Abgeordnetensitze im Parlament leer bleiben. Die Nicht-, Un- und Falschwähler wären, nach CSV, LSAP und DP, die vierstärkste Partei, deutlich vor der Regierungspartei der Grünen, vor der ADR und der Linken. Sie hätten Anrecht auf Fraktionsstatus, ohne ihn zu nutzen.
In den veröffentlichten Wahlergebnissen werden drei Gruppen von Wahlberechtigten unterschieden, die keine Abgeordneten gewählt haben. 6 142 von ihnen hielten alle Parteien für Speck und Schweinefleisch. Trotzdem unterwarfen sie sich aus Gewohnheit, Disziplin oder Angst vor einer Bestrafung dem gesetzlichen Wahlzwang, gingen wählen und gaben einen Stimmzettel ab, den sie nicht ausgefüllt hatten. Weiße Stimmzettel warfen 2,57 Prozent aller Wahlberechtigten in die Urnen. Dieser Anteil war nicht nur im Vergleich zu den Kammerwahlen 2009 rückläufig, sondern einer der niedrigsten seit Kriegsende. Nach dem Sturz der CSV/LSAP-Koalition im Sommer vergangenen Jahres schienen viele Wähler die vorgezogenen Wahlen als Ergebnis eines Richtungswahlkampfs empfunden zu haben, der sie anregte, Partei zu ergreifen. Ein ähnlich geringer Anteil an weißen Stimmzetteln wurde in einem vergleichbaren Richtungswahlkampf 1974 verbucht, als eine linksliberale Koalition als Alternative zum CSV-Staat gewählt wurde.
Daneben wurden vergangenes Jahr 8 721 ungültige Stimmzettel abgegeben, sie kamen von 3,66 Prozent aller Wahlberechtigten. Diese Wähler hatten sich beim ordnungsgemäßen Ausfüllen ihres Stimmzettels geirrt oder ihn durch eine Bemerkung kenntlich gemacht. Der Anteil der ungültigen Stimmzettel war der höchste seit Kriegsende. Vielleicht standen die vielen ungültigen Stimmzettel, wie 1974, in Verbindung zu den wenigen weißen Stimmzetteln: Im Bemühen, diesmal die richtigen Abgeordneten zu wählen, verrechneten sich Tausende Wähler beim Panaschieren und Kumulieren, bei der Vergabe von persönlichen und Listenstimmen.
Die größte Gruppe derjenigen, die vor einem Jahr keinen Abgeordneten wählten, waren 19 713 oder 8,26 Prozent Wahlberechtigte, die ihrer Einberufung nicht nachkamen. Sie gingen nicht zur Wahl, weil sie verreist oder krank waren, es vergessen hatten, nicht mit der Briefwahl klarkamen oder fanden, dass der Parlamentarismus nichts mit ihrem Alltagsleben zu tun und ihre Stimme unter Hunderttausenden keinen Einfluss hat. Wer unentschuldigt und jünger als 75 Jahre war, verstieß damit gegen den gesetzlichen Wahlzwang.
Der Verstoß gegen den Wahlzwang wird laut Artikel 90 des Wahlgesetzes mit einer Geldbuße von 100 bis 250 Euro, im Wiederholungsfall von 500 bis 1 000 Euro geahndet. Der Staatsanwalt muss innerhalb eines Monats nach den Wahlen die Liste der Wahlberechtigten aufstellen, die gegen den Wahlzwang verstoßen hatten, um sie vor den Friedensrichter zu zitieren. Allerdings ruht diese Strafbestimmung seit nunmehr einem halben Jahrhundert. 1964 wurde zum letzten Mal eine Strafverfolgung gegen Wahlberechtigte eingeleitet, die ihrer Wahlpflicht nicht nachgekommen waren, wie vor zwei Jahre der damalige Justizminister François Biltgen (CSV) auf eine parlamentarische Anfrage hin erklärte.
Trotzdem gehört Luxemburg zu den etwa 30 Ländern weltweit, in denen auf dem Papier oder in der Praxis weiter Wahlzwang herrscht. In Europa sind es noch Belgien, Griechenland, Liechtenstein und der Schweizer Kanton Schaffhausen. 1919 war in den Niederlanden der Wahlzwang eingeführt worden, damit keine Partei sich bei der Einführung des Verhältniswahlrechts benachteiligt fühlte, er wurde aber 1970 abgeschafft. Auch in Österreich wurde der 1918 mit dem Frauenwahlrecht eingeführte Wahlzwang inzwischen abgeschafft.
Hierzulande sollte der Wahlzwang bei der Verfassungsrevision zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1919 eingeführt werden, doch am 30. Januar 1919 stimmten 20 Abgeordnete für und 20 gegen die Bestimmung, die damit verworfen war. Das Ergebnis war etwas zufällig, da 13 Abgeordnete nicht anwesend waren, die Beschlussfähigkeit von einem einzigen Abgeordneten abhing. Gegen den Wahlzwang sprachen sich der Liberale Robert Brasseur, der Sozialist Jos Thorn und der Konservative Lamoral de Villers aus.
Sieben Monate später wurde mit der Verabschiedung des Wahlgesetzes vom 16. August 1919 der Wahlzwang doch noch eingeführt; er sei „indispensable afin que le résultat du scrutin reflète exactement ‚l’image du pays’“, so der Staatsrat in einem Mehrheitsgutachten. Der Wahlzwang verhindere, dass Vorgesetzte ihre Untergebenen daran hinderten, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Nach dem Ende des linksliberalen Blocks 1916 hatte sich bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts eine neue Interessenskoalition gebildet zwischen den aufstrebenden Volksparteien des 20. Jahrhunderts, den Klerikalen und Konservativen, auf Kosten der Notabelnpartei des 19. Jahrhunderts, der Liberalen. Die weitgehend bis heute gültigen Bestimmungen, wie Proporzsystem, Wahlbezirke, Frauenwahlrecht, Restsitzverfahren, Panaschieren, Kumulieren, Abgeordnetendiäten und Wahlzwang, entstanden als Kompromiss, um gemäßigte Arbeiterstimmen zu mobilisieren, konservative ländliche Wähler- und Wählerinnenstimmen aufzuwerten sowie die liberalen Notabeln teilweise zu entmachten.
Wie so viele gesetzliche Bestimmungen wurde der Wahlzwang aus Belgien übernommen, wo er 1893 bei der Abkehr vom Zensuswahlrecht als Kompromiss zwischen der Rechten und den Sozialisten in die Verfassung geschrieben worden war. Die Katholiken wollten verhindern, dass die Linken ihre Wähler besser mobilisieren könnten, die Sozialisten hielten das Wählen für eine heilige Pflicht.
Obwohl es sicher dem allgemeinen Rechtsempfinden nicht förderlich ist, die gesetzlichen Bestimmungen über den Wahlzwang nur zur Hälfte anzuwenden, gibt es heute einen fast einstimmigen Konsens unter den Parteien, den Wahlzwang beizubehalten. Bei der großen Verfassungsrevision, die seit Jahren im parlamentarischen Ausschuss verhandelt wird, ist der Wahlzwang kein Thema – schließlich steht er gar nicht in der Verfassung. Und bei der Reform des Wahlgesetzes 2003 war im parlamentarischen Innenausschuss über die Wahlpflicht diskutiert worden, doch nur die Grünen waren dagegen. Selbst die Linke wurden der alten Maxime untreu, dass Wahlen längst verboten wären, wenn sie etwas veränderten, und nannte das Wählen eine Bürgerpflicht.
Angesichts der rückläufigen Wahlbeteiligung in vielen europäischen Staaten wenden sich heute bestenfalls liberale bis libertäre Parteien gegen den Wahlzwang. Sie wollen von ihrer im Vergleich zu den Volksparteien größeren Mobilisierungsfähigkeit profitieren und lehnen prinzipiell Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Staatswesen ab. Einzig die Piratenpartei führte vergangenes Jahr die Abschaffung des Wahlzwangs in ihrem Wahlprogramm. Bei der Reform des Wahlgesetzes hatten die Grünen noch 2003 einen Änderungsantrag eingebracht, um die Artikel 89 und 90 über die Wahlpflicht zu streichen, weil sie „leidenschaftiche Anhänger der Abschaffung“ seien, so Camille Gira. Und 2004 hatten sie in ihrem Wahlprogramm resolut versprochen: „Die Wahlpflicht wird abgeschafft.“ Doch fünf Jahre später schwieg sich ihr Wahlprogramm schon darüber aus, und 2013 forderten sie das Gegenteil, dass „auch Nicht-Luxemburger Bürgerinnen und Bürger der in Luxemburg üblichen Wahlpflicht nachkommen“. In ihr Koalitionsabkommen schrieben die liberalen Modernisiererparteien vergangenes Jahr kein Wort über den Wahlzwang.