Hand aufs Herz, es gibt in der Naturkunde kaum etwas Spannenderes als Fossilien, und in der Musik kaum etwas Cooleres als Rock. Aber was passiert, wenn man diese beiden, scheinbar grundverschiedenen Welten vereint?
Zugegebenermaßen veranlasst dieser Gedanke erst einmal Stirnrunzeln, lässt doch das Ergebnis eher ein betretenes Nebeneinander als eine gelungene Symbiose befürchten. Anlässlich des Projektes „Rock Fossils – true love never dies“, das im vergangenen Jahr am Naturhistorischen Museum in Luxemburg zu einer Sonderausstellung mitsamt Rahmenprogramm führte, entpuppte sich die Vereinigung von Rockmusik und Paläontologie jedoch als unerwarteter Hauptgewinn, für beide Welten.
Aber eins nach dem anderen: Warum sollte man überhaupt so scheinbar gegensätzliche Aspekte wie Wissenschaft und Kunst, Logik und Leidenschaft, Nüchternheit und Tabubruch miteinander verbinden wollen? Zum einen bedarf die Aufteilung und Kategorisierung sicherlich keinerlei Unterstützung, weder in akademischen noch in kulturaffinen Kreisen. Es ist zurzeit derart in Mode, unter Seinesgleichen zu bleiben und sich abzugrenzen, dass man fast den Eindruck bekommt, es wäre kollektiv so gewollt. Das Vereinen von Unterschieden hingegen muss oft mit viel Aufwand und Feingefühl herbeigeführt werden.
Zum anderen floriert die Vereinigung von Rockmusik und Fossilien bereits auf eine sehr menschliche Art und Weise in einzelnen Personen: Paläontologen, die einen Hang für Rock, Metal und Punk pflegen. Ja, es gibt auch Wissenschaftler mit einem Gespür für Kunst. Eigentlich eine überflüssige Aussage, sollte man meinen, wäre da nicht die Verblüffung, die Wissenschaftler ernten, wenn sie sich als Musikfan oder sogar als Hobbymusiker zu erkennen geben. Andersherum genauso: Greg Graffin, Frontmann der legendären Punkband Bad Religion, ist nicht nur Rockstar, sondern entgegen gängiger Erwartungen promovierter Evolutionsbiologe und Professor an der Universität von Los Angeles. Einige Klischees scheinen lebende Fossilien zu sein.
Meist jedoch trennen selbst glühende Musikfans unter den Wissenschaftlern ihre beiden Interessengebiete. Spannend wird es, wenn diese Partition aufgehoben wird und die Leidenschaft für Musik in die Ausübung der Wissenschaft einfließt. Einen möglichen Weg dafür bietet ausgerechnet das wohl nüchternste Gebiet der Lebenswissenschaften: die Nomenklatur, in anderen Worten das Benennen von Arten. Dass es die Notwendigkeit gibt, den Komponenten unseres Umfeldes Namen zu geben, leuchtet ein: Wie sollte man sich sonst verständigen, wenn nicht klar ist, wovon überhaupt die Rede ist? Und so haben eben auch alle Lebewesen, sofern bekannt, einen Namen. Wenn wir von Fuchs, Wolf und Dachs reden, ist den allermeisten klar, was gemeint ist, zumindest im deutschsprachigen Raum.
Schwierig wird es, wenn andere Sprachen ins Spiel kommen. Damit ein und dasselbe Tier nicht mal „Fuchs“, mal „Renard“ und mal „Raposa“ heißt, gibt es den so genannten wissenschaftlichen Namen Vulpes vulpes, der überall auf der Welt, unabhängig vom Sprachraum, die Art Rotfuchs bezeichnet. Diese aktuell gültige und weltweit einheitlich angewandte Benennung der Lebewesen beruht auf dem Meisterwerk Systema Naturae, 1758 veröffentlicht vom schwedischen Botaniker, Zoologen und Arzt Carl von Linné. Damit ein System kohärent angewandt wird, braucht es ein Regelwerk mitsamt Kontrollinstanz. So gibt es den internationalen Codex für zoologische Nomenklatur, verfasst und verwaltet von der internationalen Kommission für zoologische Nomenklatur, sowie ihre jeweiligen botanischen Äquivalente.
Wer sich an diesem Punkt an die Deutsche Industrienorm erinnert fühlt, liegt gar nicht so falsch: Das Benennen einer biologischen (oder paläontologischen) Art ist ein hochgradig formalistischer Akt. Angesichts der Tragweite der Artnamen – im Idealfall weltweit und für alle Ewigkeit gültig – versteht sich die Notwendigkeit dieses Formalismus. Allerdings macht er die Nomenklatur als Fachgebiet leider extrem unattraktiv. Ob deshalb seit Jahren allenthalben Fördermittel- und Personalkürzungen vermehrt auf Kosten von nomenklaturlastigen Fachbereichen gehen?
Es überrascht angesichts des durchformalisierten Prozesses einer Artbenennung, dass es nur eine Handvoll Regeln für die eigentlichen Namen gibt. So muss ein Artname kleingeschrieben zusammen mit einem Gattungsnamen aufgeführt werden, aus mindestens zwei Buchstaben bestehen und nur die Zeichen des lateinischen Alphabets enthalten, also keine Ziffern, Umlaute oder sonstige Sonderzeichen. Weniger eindeutig sind die Regeln, dass ein Artname aussprechbar und wohlklingend sowie frei von beleidigenden oder anstößigen Aspekten sein muss. Darüber hinaus ist alles erlaubt. Ungeachtet der daraus resultierenden, schier endlosen Freiheiten der Namensgebung halten sich die meisten Experten brav an Gepflogenheiten und benennen ihre Arten nach dem Fundort (Caloceras luxemburgense), nach einem Merkmal (Ceratarges spinosus) oder nach konsensfähigen Persönlichkeiten (Caerostris darwini). Und dann gibt es die Kollegen, die sich in der kreativen Freiheit der Namensbildung völlig ungehemmt austoben und Aspekte einfließen lassen, die weit über die zu benennende Art hinausgehen. Genau an diesem besonderen Punkt des Prozesses kann die Mauer zwischen der Wissenschaft und den anderen persönlichen Anliegen des Experten zu bröckeln beginnen. Dann kann ein Artname schnell mal zur Hommage an den Lieblings-Musiker werden.
Um nachzuvollziehen, wie man auf die Idee kommt, eine Art nach einer Band zu benennen, hier ein kurzer, persönlicher Erfahrungsbericht: Der Flur, schummrig ausgeleuchtet, strömt auch nach vielen Jahrzehnten den leicht unangenehmen Duft von Linoleum aus. Draußen zwitschern die Vögel, obwohl es schon dunkel ist, oder eher noch dunkel ist, denn der einzige freie Slot am Elektronenmikroskop des Instituts war wieder der um drei Uhr nachts. Nun gut, die Doktorarbeit schreibt sich nicht von allein. Ein Scandurchlauf des Geräts dauert anderthalb Minuten; zu lange, um einfach nur zu warten, zu kurz, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Der Kaffee ist seit zwei Scandurchläufen kalt, und überhaupt fühlt sich das Wachbleiben irgendwie verkatert an.
Langsam wird das Bild des Mikrofossils auf dem Schirm des Geräts scharf, spannende Strukturen zeigen sich, die Hypothese stimmt, zum Glück nicht umsonst gescannt, da passt der Song „Black Tongue“ von der amerikanischen Heavy-Metal-Band Mastodon, der gerade über die Kopfhörer durch die Ohren ins Gehirn strömt, perfekt in die Stimmung. Aufbruch, die Strapazen abschütteln. Weiter im Text, aber diesmal mit neuer Energie; es ist tatsächlich eine neue Art, der Verdacht erhärtet sich. Eine unbekannte Art! Wahnsinn, und wie soll sie heißen? Wer war dabei, als aus dem Verdacht die freudige Gewissheit wurde? Eben, willkommen: Lapidaster mastodon.
Klingt verrückt, ist aber schon dutzendfach so oder ganz ähnlich passiert, und zwar mehreren inspirierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unabhängig voneinander. Es gibt aktuell über 70 Arten von fossilen Lebewesen, die nach einem Musiker oder einer Band benannt sind. Und alle haben eine sehr persönliche Geschichte, geprägt von diesem einen Moment, in dem sich die Faszination für die Wissenschaft und die Leidenschaft für Musik vereinten. Da ist der kleine Raubsaurier, der nach Mark Knopfler benannt wurde, weil bei der Grabung auf Madagaskar nur dann Knochen gefunden wurden, wenn im Radio die Dire Straits liefen. Da ist der Trilobiten-Experte, der die vier neuen Arten einer Gattung nach den vier Mitgliedern der Sex Pistols benennt, weil er seiner Verehrung Ausdruck verleihen möchte und nicht zuletzt dadurch seine älteren Kollegen dezent herausfordern kann. Da ist die junge Paläontologin, die in Punkrocker und Uni-Professor Greg Graffin die personifizierte Vereinigung ihrer Leidenschaften erkennt und ihm einen neuen Urvogel widmet. Und da ist der Frontmann der berühmt-berüchtigten Metal-Band Slipknot, Corey Taylor, dessen kraftvolle Stimme den Frust des Wissenschaftlers während der Erforschung einer neuen Schlangensternart wegbrüllt, wonach jener ihn zum Namensvetter dieser Art macht.
Darf man das? Laut Codex ja. Soll man solch ungewöhnliche Namen vergeben? Natürlich! Beraubt das die Wissenschaft nicht ihrer Seriosität? Nein.
Wie so oft bei kreativen Entscheidungen, sind solche Namen natürlich Geschmackssache. Man muss die Begeisterung für die Namensstifter und ihr musikalisches Werk nicht teilen, und man muss den Wohlklang der daraus resultierenden Artnamen nicht anerkennen. Man muss Indian Pale Ale nicht mögen, und man muss die moderne Architektur nicht schön finden. Aber man kann! Zumal es den namenstragenden Tieren und Pflanzen egal sein dürfte, nach wem sie benannt sind.
Nicht egal ist hingegen die Außenwirkung von Arten, die nach Bands oder Musikern benannt sind. Weit über die persönlichen Beweggründe des namensgebenden Experten hinaus, haben Artnamen mit Bezug zur „normalen“ Welt ein viel größeres Potential, ein großes Publikum zu erreichen, als ihre konventionellen Pendants. Ein simples Beispiel: Die zwei fossilen Fische Ceratoichthys und Hendrixella lebten beide im Miozän von Italien. An welchen der beiden Namen würde man sich wohl nachträglich am ehesten erinnern, auch ohne explizit Fan von Jimi Hendrix zu sein? Eben! Durch den Bezug zur Musik erreicht man Musikfans, die man ansonsten nicht mit Wissenschaft ansprechen könnte.
In der Wissenschaftskommunikation werden immer noch viel zu oft schon offene Türen eingerannt. Wer eine Wissenschaftsmesse mit den üblichen Stichworten bewirbt, angelt im Fass. Dagegen ist selbstverständlich nichts einzuwenden, aber ein neues Publikum erreicht man damit kaum. Anlässlich des Projekts Rock Fossils wurde am Naturmusée ein breites Spektrum von Aktivitäten angeboten, von wissenschaftlichen Vorträgen bis hin zu Metal-Konzerten inmitten der Ausstellung. Es waren vor allem die Events mit musikalischem Schwerpunkt, die ein neues Publikum anlockten. Selten waren so viele schwarze T-Shirts im Museum anzutreffen. Wie sich herausstellte, war es für viele der begeisterten Musikfans tatsächlich das erste Mal seit ihrer Schulzeit, dass sie den Weg ins Naturmusée fanden. Während persönlicher Gespräche vor Ort entpuppten sich viele von ihnen überraschenderweise als Wissenschaftsfans. Warum brauchte es erst die Verbindung mit der Musik, um sie ins Museum zu locken?
Es scheint, als gäbe es weniger ein Problem mit den Inhalten als vielmehr eine Kommunikationsbarriere. Das Interesse für Wissenschaft ist offensichtlich deutlich weiter verbreitet, als das Besucherspektrum typischer Wissenschaftsveranstaltungen vermuten lässt. Wie so oft im Leben macht der Ton die Musik. Werden wissenschaftliche Inhalte in einer neuen Tonlage vermittelt, in Anlehnung an fest etablierte Szenen mitsamt ihrer Symbolik und Ausdrucksweise, entsteht das Potential, die Anhängerschaft dieser Szene zu erreichen. Bei Rock Fossils wurden wissenschaftliche Events mit Flyern und Plakaten beworben, als seien es Metal-Konzerte aus der Untergrund-Szene. Darüber hinaus war das gesamte grafische Design der Ausstellung von der Ästhetik der Rock- und Metal-Szene inspiriert. Das vielseitige Spektrum der Besucher bestätigte den Erfolg dieser Herangehensweise.
Dennoch ist Vorsicht geboten: Nicht authentisches Übernehmen von Symbolen und Ausdrucksweisen anderer Szenen wurde schon oft – zu Recht – als unerwünschtes Eindringen von Szenenfremdlingen abgestraft. Es reicht eben nicht, seinem Flyer eine Metal-Ästhetik zu verpassen, wenn es keinen triftigen Grund dafür gibt. Im Fall von Rock Fossils lieferten die Hauptdarsteller des Projektes, die nach Musikern und Bands benannten Fossilien und ihre Entdecker, die Legitimation. Anlässlich eines Konzerts der schwedischen Metal-Giganten Arch Enemy in der Rockhal wurde deutlich, dass eine wissenschaftliche Einmischung durchaus als Bereicherung von den Szenemitgliedern aufgenommen werden kann. Das Naturmusée konnte nicht nur einen Teil der Rock Fossils-Ausstellung im Foyer der Konzerthalle aufbauen, sondern überreichte der Frontfrau von Arch Enemy, Alissa White-Gluz, zudem ein Modell des nach ihr benannten Fossils live auf der Bühne, während ihrer Show. Die Reaktionen der Fans waren eindeutig: Die Wissenschaft war an diesem Abend kein Fremdkörper, sondern ein willkommener, wenn auch unerwarteter Gast und Gleichgesinnter.
Rock Fossils hat gezeigt, dass es sich lohnt, verschiedene Welten zu verbinden, auch oder gerade wenn diese auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Eine wesentliche Grundvoraussetzung ist jedoch, dass diese Vereinigung authentisch, auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt erfolgt. In einer Welt von zunehmender Aufspaltung und Nicht-Kommunikation zwischen Gruppierungen fördert solch Brückenbau ein Phänomen, für das es keinen passenden deutschen Begriff gibt: „cross-fertilization“, unbeholfen und unvollständig als gegenseitige Bereicherung zu übersetzen. Es ist zu erwarten – und teilweise schon zu erleben –, dass solche Symbiosen zwischen Wissenschaft und anderen Welten, allen voran Pop-Kultur und Online-Videoplattformen. Das könnte eine neue Ära der Wissenschaftskommunikation einläuten. Wenn zwei sich verstehen, ist das Ergebnis aus dieser Verbindung eben doch viel mehr als die Summe der Einzelnen.