Die zentralen Motive von Verwirrung und Verirrung kulminieren, da hat der Vorhang sich kaum gehoben: In dichter Schwärze stolpert ein Jemand umher, mit hektischen Schritten, unverkennbar verloren. Das Klackern der schweren Sohlen führt die Nackenbewegung der suchenden Zuschauer in vage Richtungen. Dann taucht der Schein eines Spots den linken Teil der Bühne in zaghaftes Licht und offenbart ein Paar waise Lederschuhe. Ihnen nähern sich zögerlich die roten Wollstrümpfe des Jakob Michael Reinhold Lenz.
Mit dieser Szene führt Regisseur Frank Feitler in seine Dramatisierung zu Georg Büchners posthum veröffentlichter Erzählung ein: Der hessische Vormärzdichter erzählt von der Flucht des Stürmers und Drängers Lenz ins vogesische Steintal. Dort möchte er die Hilfe des Pfarrers und Sozialreformers Johann Friedrich Oberlin angesichts seiner zunehmenden geistigen Umnachtung in Anspruch nehmen. Das Dunkel mag stehen für die maximale seelische Verfinsterung und die „entsetzliche Stimme (...), die man gewöhnlich die Stille heißt, (...) es lässt mich nicht schlafen“. In diesen wenigen Sekunden wird szenisch dargestellt, was in der folgenden Stunde geschrien, beklagt und erzittert wird.
Luc Feit spielt J. M. R. Lenz mit vollem Körpereinsatz. Während seines Solo-Auftritts bedient sich der Schauspieler der minimalistischen Requisite (sechs Scheinwerfer, sieben Kübel) insbesondere, um das psychotische Zusammenspiel der Autorenseele mit der mal lebensfeindlichen, mal phantasierten Gebirgslandschaft wiederzugeben. An die Brunnenszenen angelehnt muss er sich mehrfach einen vollen Eimer Eiswürfel über den Kopf kippen, um seine wiederholt aufstoßenden Panikattacken abzufrieren: „Es war, als jage ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.“ Dann bewirft er Gesicht und Brust mit Asche, überzeugt davon, er müsse eine eingebildete Mordschuld büßen. Lichttechniker Daniel Sestak sorgt zudem dafür, die verstreuten Eiswürfel und Metalleimer in ein surreales Reflexionsspiel zu bewegen, die Lenz’ Hüpfen zwischen Traum-, Alltags- und Wahnwelt verbildlicht. Feit ermöglicht einen sehr körperlichen, vom Wahnsinn getriebenen, in seinen ästhetischen Ausführungen über Idealismus und Realismus reißerisch-schrillen Lenz.
Genau in dieser Eigenart begegnen sich Glück und Problem des Theaterabends: Feits mimische Verdienste konzentrieren sich weitestgehend auf das Schrille, Clowneske, Komisch-Schräge. Die Rolle des Lenz, die Feitler und Feit seit Jahren erarbeitet haben, wirkt gerade deshalb wie maßgeschneidert, passt hier wie die Faust aufs Auge. So manch vertrackte Umlautung des „a“-Lauts und die überzogene Betonung der Infinitiv-Endung ist auffällig, doch immerhin trägt er die Produktion über siebzig Minuten hinweg allein. Nein, diese Momente sollten nicht ins Gewicht fallen. Fraglich ist jedoch, warum sich Regisseur und Schauspieler zu einer derart komödiantischen Interpretation der Titelfigur entschieden haben. Büchners Vorlage ist fraglos nicht frei von Humor, wirkt ernster, tragischer, finsterer. Keine Frage, die Neuinterpretation ist stimmig und funktioniert. Ist aber gerade deshalb ihr komisches Potenzial herausgearbeitet worden, weil Feit insbesondere diese Züge so sehr beherrscht?
Sei’s drum, Frank Feitlers Arbeit zur Vormärzliteratur ist ein voller Erfolg. Unter minutenlangem Applaus verabschiedet sich Lenz ins Dunkle mit den Worten: „Sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin“. Kurzweilig ist dieser Theaterabend in seiner Dramaturgie, mit herrlich minimalistischer Kulisse und einem Darsteller, der die Zuschauer mitreisst. Unvergesslich bleibt jene Sekunde, in der er seinen Lenz den Namen des Dichterfürsten Goethe literaturtheoretisch abfällig aussprechen lässt, der Art, wie man sie in Worte schwerlich fassen kann. Das muss man gesehen haben, so zum Beispiel am heutigen Freitag im TNL.