Findet ein Schauspieler sich selbst in seiner Rolle? Oder ist derjenige Darsteller der beste, der es vermag, mit seinem Kopf und erlerntem Kalkül Identifikation zu fingieren? Muss es die „vierte Wand“ zwischen Bühne und Publikum geben, jene Wand also, die den Zuschauer vom Bühnengeschehen trennt, das Bühnengeschehen als Realität verkauft? Oder gilt es, sie mit Brechtscher Verfremdung niederzureißen und das Publikum einzubinden?
Unter dem etwas inhaltsarmen Titel Theater und Gesellschaft liefert das Kasemattentheater zum Abschluss der diesjährigen Theatersaison eine spannende Selbstreflexion über die Rolle und Funktion der unterschiedlichen Protagonisten auf und um die Bühne. In Teilen szenisch, lesen etablierte Darsteller, Regisseure und Intendanten der Luxemburger Bühne zuerst Denis Diderots Paradoxe sur le comédien aus dem Jahre 1830 und anschließend Bertholt Brechts Der Messingkauf, das der Augsburger Dramatiker im 1939 im dänischen Exil als eine Art Anleitung für seine Stücke verfasste.
Brecht knüpft in seinen dialogischen Anführungen nicht nur unmittelbar an Diderots Überlegungen an. Die Form der beiden Texte, jene des Dialoges, liefert zugleich auch die Idee für die Vortragsweise am vergangenen Freitag. An Konsolen- und Publikumstischen oder gar über die Bartheke gebeugt, sprechen die Darsteller einander die Textpassagen mimisch zu oder wenden sich vortragend an das in der Mitte lauschende Publikum. Von Germain Wagner und Charles Muller über Marie-Paule von Roesgen, Serge Tonnar und Odile Simon bis hin zu Josiane Peiffer und Marja-Leena Junker bringen zahlreiche Namen der Theater-szene die dramaturgischen Grundsätze der beiden Theoretiker zur Sprache, verleihen dem Text Profil. Gerade die ironischen Passagen beider Werke werden von den Akteuren ab und zu auch mit gestischen Einspielungen unterstrichen, um sie durch zurückhaltendere Darbietungsformen zu kontrastierten – gerade dann, wenn Brecht und Diderot den moralischen Zeigefinger heben. Die durch die Dialektik entwickelte Vielfalt theoretischer Positionen spiegelt sich somit in der Form wider.
Dieselbe Vielfalt der dramentheore-tischen Reflexionen erlaubt es jedem Zuhörer, die eigenen Vorlieben als Theaterfreund mit den Forderungen der Autoren abzugleichen, hinzuzulernen oder schlicht so manches Ausrufezeichen zu belächeln. Zwar steht das Abschlussfest zur Saison 2010/2011 noch an – und doch wirkt die Lesung vom 10. Juni wie ein Rückblick mit Augenzwinkern. Sie erweckt den Eindruck, als ließen auch die Akteure der luxemburgischen Bühnen das Geschehene noch einmal Revue passieren. Es stellt sich die Frage nach dem Geleisteten: Haben wir es vollbracht? Sind wir den Anforderungen Brechts oder Diderots gerecht geworden? Oder gilt es doch, mehr mit Herz und weniger mit Kopf zu spielen? Schließlich: Ist die Poetik dieser Granden nicht vielmehr literarischer Genuss als ernst zu nehmende Anleitung?
Doch nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Mit dem Rückblick geht auch der Vorausblick einher. Und so bietet diese Produktion von Kasemattentheater und Théâtre du Centaure auch eine mentale Einleitung in das mit Spannung erwartete Bühnenprogramm der kommenden Saison.