Ja, es mag durchaus am Alter oder an jahrzehntelangen Gewöhnungen des Rezensenten liegen, wenn er sich am Ende der Lektüre des jüngsten Pseudo-Romans der erst 26 Jahre jungen literarischen Senkrechtstarterin Claudine Muno vorgekommen ist, als stecke auch er, darin den ihren neu hinzu fabulierten und den aus früheren Werken überkommenen Gestalten ähnlich, in einem, wie der Titel nahe legt, mehr und minder tiefen Koma fest. Gewiss, er hätte gut daran getan, sich die auf 23 Kapitel und Kapitelchen verstreuten Episoden von Koma einzeln, das heißt besser dosiert vorzunehmen, anstatt das Buch in nur zwei Anläufen herunter zu lesen. Nur, Claudine Muno, die ihm gegenüber schon mal gestanden hat, Einfälle überkämen sie zahlreicher und vor allem schneller, als sie schreiben könne, es schreibe in ihr auch schneller, als sie nachdenken oder sich ihrer Einfälle zu erwehren vermöge, dürfte, da echtes Multitalent, selber erahnt haben, dass viele normale LeserInnen ihre liebe Mühe haben würden, das total versponnene Beziehungsnetz ihrer Geschichte und ihrer Geschichten zu durchschauen, geschweige denn zu entflechten. Und so hat sie, die nicht nur dichterisch, nicht nur musikalisch, sondern offensichtlich auch zeichnerisch begabt ist, nicht nur seitenweise kleine illustrative Vignetten in den laufenden Text montiert, sie hat ihrer Textur auch einen komplex hin und her verweisenden Plan der zeitweise unter ihren Figuren herrschenden, mehrheitlich aber blitzschnell wechselnden Beziehungen beigefügt. Dieser Plan lebt seinerseits jedoch von recht kokettem Understatement, das heißt er trägt nicht nur wenig dazu bei, den "Roman" transparenter zu machen, im Gegenteil, er verwirrt die von der Erzählerin so spontan wie absichtlich gesponnenen Fäden nur noch zusätzlich. Claudine Muno verrät liebenswürdigerweise gar vorauseilendes Verständnis für den "Berufsleser", wenn sie etwa zehn Seiten vor dem Koma-Ende schreibt: "Gottseidank, seet de Literaturkritiker, lo war ech bal duerchernee gin, matt all deene Personnagen..." Es wäre also von Seiten des Rezensenten absurd verlorene Liebesmüh, wollte er ernsthaft versuchen, zum Nutzen der Land-Leser die Story von Koma nachzuerzählen oder das zusammen spintisierte Geflecht gazeleichter zwischenmenschlicher, auch erotischer Beziehungen und grundsätzlich instabiler Verhältnisse unter den zu ganz verschiedenen Zeiten und an häufig wechselnden Schauplätzen auftretenden Typen aus der kleinen Unterwelt der einheimischen Rock- und Pop-Szene zu entwirren. Nur eine schon aus dem servais-preiswürdigen Roman Frigo her bekannte Type sei hier deshalb besonders gewürdigt, weil sie denn doch auf Claudine Munos viszerale Abneigung gegen den mittlerweile als Superminister amtierenden Luc Frieden schließen lässt; in Frigo hieß selbiger noch "Injustizminister", Muno hat ihn für Koma zum "Onsécherheetsminister", ja zum "Immobilitéitsminister" promoviert und drängt ihm, dem Law[&]order-Mann par excellence, mitunter sogar eine Kalaschnikow auf. Ansonsten wuselt und wieselt es in Koma wie in sämtlichen vorherigen Werken der schreibseligen Autorin nur so von urkomischen männlichen und weibliche Käuzen. Wenn sie etwa bieder lëtzebuergësch nur "Mulles" heißen, müssen sie sich aber wenigstens dadurch auszeichnen, dass sie mehrmals und bei den belanglosesten Anlässen dahinsterben und erst wieder zu "standhaftem" Leben aufwachen, wenn die übrige "Roman"-Bagage schließlich in der Reha-Abteilung einer Klinik gestrandet ist. Dass der auferlegte und aus Claudine Muno munter hervorsprudelnde erzählerische Nonsens nicht über Gebühr ernst genommen werden will, dass er aus ihrer schier grenzenlosen Fabuliersucht, aus ihrer beinahe obsessiven Lust an reiner Phantasmagorie rührt, das wird schon von den erhellt, Namen, in die sie ihre Figuren und Figurinen gekleidet hat; heißen sie doch u.a. Krätsch, Nessa, d'Meedche vum Radio, dat een ëmmer um Fernseh gesäit, Rune, Yannick, Punk, Betti, Tanja mat J und Tania mat I, Déckmadamm, Maria a Jousef, Geschnidden, Am Stéck usw. usf. Sie spielen Gitarre oder spielen sie auch nicht, sie spielen Piano oder lernen erst gar nicht Piano spielen, sie sind Batteure und singen Lieder, die sie selber für schlecht halten, kurzum, sie leben in Zwischenwelten, und dennoch steckt in ihnen allen wie in der ganzen von ihnen getragenen „Geschichte“ ein harter Kern existenzieller Melancholie. Mit Koma verhält es sich wie schon mit Frigo und dem Fléschkinnék, man liebt dieses Buch und lässt sich von ihm köstlich amüsieren, oder man schmeißt es schon nach den ersten stark verwirrenden, verunsichernden Seiten in die Ecke und ärgert sich lauthals über die Kritiker, die Literaturpreisjuroren und die Musikfans, die die Muno seit Jahren über den grünen Literaturklee loben. Die mittlerweile bereits ansehnliche Latte an Publikationen erregt in der Tat den Verdacht, Claudine Muno, dieses kleine, unscheinbare, fast ätherische, flüstrige weibliche Wesen, das zwar Geschichte studiert, aber von vornherein darauf verzichtet hat, den ihr wahrlich nicht auf den Leib geschneiderten Lehrerin-Beruf anzutreten und seit kurzem "grünen" Journalismus betreibt, wenn sie nicht gerade "Romane" schreibt, Songs erdichtet und selber auf Sets dünnlippig in Mikrofone haucht oder die Bühnen mit absurd verspielten Dramentexten beliefert, sei doch etwas zu großzügig und zu vorschnell am Schaffen und am Publizieren. Allein, um dieser Claudine Muno wirklich gerecht zu werden, ist es notwendig, ja unerlässlich, ihr unwiderstehliches Auftauchen auf der kleinen Luxemburger Szene als echtes Phänomen kultur- und literaturhistorisch angemessen einzuordnen. Der über das zählebig lange Stadium Kunstsprache in Einzelfällen zum Sprachkunstwerk heran gereifte Luxemburger Dialekt-Roman blickt auf eine recht kurze Entwicklungsgeschichte zurück. Pionier auf diesem nationalen Literaturfeld ist zweifelsfrei Guy Rewenig; er hat mit seinen fünf unterschwellig polemisch temperierten, vor allem aber dem sozialrealistischen, wenn nicht sogar zolaisch naturalistischen Wälzern dem lëtzebuergeschen Roman mehr als eine schmale Gasse gebahnt; Rewenig hat, etwa in Nico Helminger, nein, nicht den Nachahmer, sondern den eigenständigen Nachfolger gefunden, der in seiner Dialektprosa ebenfalls vornehmlich, wenn auch souveräner, distanzierter, artistischer Sozialgeschichte schreibt. Auf einen ersten echten epischen Höhepunkt treibt Roger Manderscheid den Roman und alsogleich mit einer weitestgehend autobiografisch unterfütterten Trilogie; bei Manderscheid erreicht auch das Lëtzebuergesch mitunter ein Format, das über den Dialekt, das heißt in die Hoch-, in authentische Literatursprache verweist. Es scheint nunmehr, als sei mit Claudine Muno in Luxemburg eine Romanepoche schon wieder in sich abgeschlossen oder am Verdämmern. Mangels einer treffenderen Definition würde ich Munos Eigenart, luxemburgische Erzählprosa zu schreiben, "toutes proportions gardées" als "nouveau roman" bezeichnen. In der Tat lebt die "Erzählung" bei Muno fast völlig aus purer Wollust an und in der Sprache. Die Kontinuität, die Chronologie einer Story wird drangegeben, die Gestalten haben absichtlich Kunst-, fast Künstlichkeitscharakter, die "Handlung" ist alles, nur nicht stringent, was erzählt wird, kann sich irgendwo, sogar im Nirgendwo abspielen, und wenn sie etwa auf Petinger Gewann oder in Kopstal angesiedelt ist, sind diese Ortsangaben allenfalls Chiffren, die Szenerie ist beliebig auswechselbar und bisweilen wie bei Beckett öde oder wüst auch dann, wenn sie vermutlich um Rock-Bühnen rotiert. Gottlob, ist Claudine Muno mit sehr viel Sinn für Humor, oft Galgenhumor gesegnet, sie verfällt nicht in den rewenigschen Bierernst, nein, sie vermag sich immer wieder selber (und natürlich auch ihr Publikum) als Schreiberin auf den Arm zu nehmen. Dank dieser Tugend bringt sie es - hoffentlich - auch fertig, LeserInnen zu gewinnen bzw. zu versöhnen, die sich auf Anhieb mit ihrer spezifisch künstlichen künstlerischen Sprache und Story in Koma schwer tun dürften.
Claudine Muno: Koma; Op der Lay; Juli 2005; 123 Seiten, 9,50 Euro; ISBN: 2-87967-117-5