Parlamentssitzung vom 21.03.2013: Der Gesetzentwurf für eine neue Nationalbibliothek in Luxemburg-Kirchberg wurde mit unübertrefflicher Begeisterung verabschiedet. Angesichts der nationalen geistigen Bedeutung dieser Institution wurden wie selten zuvor intellektuelle Reden vom Feinsten gehalten. Eine wahre Sternstunde des Parlamentarismus. Nein, so war es nicht! Es war peinlich. Bibliothekare, die die Debatte verfolgten, mussten lernen:
A) Die internationale Bibliothekswelt muss sich irren. Es gibt keinen Unterschied zwischen Dorf- und Forschungsbibliothek. Die totale Harmonie existiert nur im Inselstaat Luxemburg. Welcher Luxemburger kennt schon diesen Unterschied? Die Verfasser des Gesetzentwurfs Nr. 6516 bestimmt nicht. Sprachgewandt waren sie ebenfalls nicht. Resultat: haarsträubend bescheuerte Wortkreationen. Die Behauptung, alle Mitarbeiter der Nationalbibliothek hätten bei der Planung mitgearbeitet, ist eine Lüge. Der Rückgriff auf vorhandenes kompetentes Personal oder zumindest ausländische Fachleute, wie es Nationalbibliotheksleiter angesichts fehlender Qualifikationen seit 1798 tun müss(t)en, gehört überprüft.
B) „De Site“. Da war er wieder: der Standort! Das ist das Hauptproblem unseres Landes. Je größer das Gebäudeprojekt, desto wichtiger der Standort. Entfernung zum Nutzer? Zweitrangig. Der Kirchberg, das „Fleuron vun onser Stad“ (Martine Mergen, CSV) ist ein Stadtviertel, „deen elo vläicht net vu Kultur strotzt, […] wou et Banke gëtt, wou et den Auchan gëtt, wou et also ganz vill Mënsche gëtt, déi vun enger Bibliothéik kënnen ugesprach ginn“. (Ben Fayot, LSAP). Kredite (prêts) bekommen, „de Cäddi“ mit Büchern füllen, dies alles in der ersten Wellness-, beziehungsweise „Wohlfühlbibliothek“? Waren bisher denn alle Bibliotheksgründungen Schlechtfühlbibliotheken? Über den scheinbar idealen Standort gingen die Meinungen auseinander: „Mä de Bricherhaff ass awer – an ech soen et ganz kloer –, fir mech net de premier Choix.“ (Lydie Polfer, DP). „De Site ass effektiv net ideal.“ (Fernand Kartheiser, ADR). Politikverdrossenheitsfördernde Basta-Politik? Nein, nur eines der üblichen politischen Lokalneidgefechte. Die Universität Luxemburg im Süden des Landes zu implantieren, war ein Fehler. Und so ist es politisch unmöglich durchsetzbar, dass auch noch eine Nationalbibliothek (demnächst etwa das Nationalarchiv?) die Hauptstadt verlassen würde1.
C) Zielgruppe: nicht genau präzisiert (!), deshalb aber (wieder) der Standortvorteil: Neben den „tollen“ lokalen – nicht nationalen – Verkehrsanbindungen treffen sich dort die Jugendlichen, zwischen dem Utopolis-Kinokomplex und dem Sportzentrum Coque!? Dies steht tatsächlich in dem „exzellenten“ (Ben Fayot, LSAP) Motivenbericht (Punkt 8.1.2.). 112 171 000 Euro für eine Zielgruppe, die nicht nur die Nationalbibliothek nicht nutzt, sich nicht dort wohlfühlt, sondern die es so gar nicht gibt? Keine Bank würde für ein solches Vorhaben in der Privatwirtschaft einen Kredit gewähren.
D) Stichwort Egoismus. Hauptsache, die Hauptstadt fühlt sich wohl. Diese „egoistischen“ (Martine Mergen, CSV) Studenten vom landesgrößten Studentenverband Acel (Association des Cercles des Étudiants Luxembourgeois) werden der Politik für diese feindselige Abstimmung danken. Es gibt leider eine kleine Änderung in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts: Mit nur drei Büchern kann heute keine Masterarbeit mehr geschrieben werden! Wissen das nur die Studenten?
E) Der Unterschied zwischen Primär- und Sekundärliteratur ist unseren Parlamentariern anscheinend mehrheitlich nicht bekannt. Bringen wir es kurz und knapp auf den Punkt: Wenn eine Nationalbibliothek abbrennt, können circa 80 Prozent der Bestände weltweit wiederbeschafft werden (Sekundärliteratur: Abgeschriebenes und Interpretiertes). Brennt ein Nationalarchiv ab, sind 100 Prozent der Bestände für immer verloren (Primärliteratur: Unikate, Einmaliges). Die unverfälschten Quellen, die Existenzberechtigung, die Identität des Luxemburger Staates, wären unwiederbringlich futsch! Der Schutz der Primärliteratur würde theoretisch bedeuten, dass ein Nationalarchiv politisch primär-prioritär zu behandeln wäre. Aber dafür müsste „eng Kohärenz an der Argumentatioun bestoen“ (Fernand Kartheiser, ADR).
Resignieren, sich jetzt in einen „Wohlfühlsarg“ legen und den Deckel schließen? Der Bibliothekar- und Archivarverband Albad hatte im Februar 2011 ein Positionspapier veröffentlicht, in dem ein gemeinsames, für den Bauherrn kosten- und die Benutzer zeitsparendes Gebäude für Nationalbibliothek und -archiv vorgeschlagen wurde. Da der Verband sich vermutlich zu sehr für die Benutzer einsetzte und somit indirekt auf einen politisch nicht gewollten Standort hindeutete (d’Land, 7/2011), wurde dieses Papier ignoriert.
Zählen wir die Gemeinsamkeiten zwischen Nationalarchiv und -bibliothek einmal auf. Zuerst die Ziele: Die Archivierung von Unikaten und Raritäten, ob in Print- oder audiovisueller Form, für die Ewigkeit; das Sammeln von grauer Literatur und Periodika; Präsenzbestände sind ein Muss; gearbeitet wird mit Katalogen, Spezialbibliographien, Handapparaten (Nachschlagewerke), hauptsächlich in Magazinen; Herausgabe von wissenschaftlicher Hilfsliteratur; die Forschung steht an vorderster Stelle; thematisch identische Schwerpunkte sind Geschichte, Recht, Bibliotheks- und Archivwissenschaft, historische Hilfswissenschaften; das Erwerbungsprofil konzentriert sich auf Luxemburgisches. Hinzu kommt, dass als Begleitmaterial des Gedruckten immer öfter Audiovisuelles und Elektronisches abgeliefert wird. Dafür wird Fachwissen für Langzeitarchivierung (d’Land, 12/2013) benötigt, das beide Institutionen sich teilen könnten, ja in Kleinstaaten eigentlich müssten.
Gemeinsame Dienstleistungen für Benutzer anbieten: insbesondere historische Forschungen, genealogische Recherchen, behindertengerechte Dienste (auch für Sehbehinderte), Recherchen für die Exekutive, Legislative und Judikative, sowie allgemeines Recherchetraining für Unerfahrene.
Gemeinsame Abteilungen, Doppelungen vermeidend: Empfang von Schenkungen, antiquarische Suche, Schriftentausch, Reproduktion (Mikrofilm und Fotografieren inklusive) und Digitalisierung, Informatik, technische Bearbeitung (Bindearbeiten), Restaurierung, Bestandserhaltung, Notfallplanung, juristische Beratung, Spezialsammlungen (Fotos, Hochschulschriften), Metakatalog (Integration aller Kataloge), Internetposten, Verlag für wissenschaftliche Publikationen, Spezial-Lesesäle und Bunker/Panzerschränke für Rara, Handapparate mit hilfswissenschaftlicher Literatur, individuelle Arbeitskabinen (carrels), Gruppenarbeitsräume, fachgerechte Magazine, Leihverkehr (Ausleihe von Exponaten), Ausstellungsräume, Konferenzräume, Auditorien, Atrium, Hausmeister, Restaurant, Shop, Fundbüro und Kinderkrippe.
Gemeinsames Personal. Zwischeninstitutionell austauschbar wären: Ingenieure, Buchhalter, Personal- und Ausbildungsbeauftragte, Informatiker, wissenschaftliche Assistenten, Verwaltungsbeamte, Magaziner, Handwerker, Reinigungskräfte und Überwachungsdienste.
Angesichts dieser nicht winzigen Liste und ihres Einsparungspotenzials fühlt sich die Albad seit der Parlamentssitzung vom 21.03.2013 unwohl und musste außerdem vor kurzem feststellen: Die Politik hat das 2003-er Nationalarchiv-Neubauprojekt wiederentdeckt. Hatte man doch glatt vergessen (d’Land, 26/2013). Jetzt heißt es, wegen des Baus der Universität sei dafür nie genug Geld da gewesen (Antwort auf die Parlamentarische Anfrage Nr. 2 656). Dabei kostet ein neues Nationalarchiv 20 Millionen Euro weniger als eine neue Nationalbibliothek!
Was nun tun? Beispielsweise einen Gesetzentwurf über den Neubau eines Nationalarchiv und einer Nationalbibliothek erarbeiten. Viel Vorarbeit wurde ja schon geleistet. Das offi-zielle Totschweigen des Gesetzentwurfs Nr. 5 349 seit 2004 deutet auf wenig Reaktivierungserfolg hin. Der neue Entwurf müsste nur den Passus enthalten: Das Gesetz vom 18.04.2013 wird außer Kraft gesetzt. So wie damals, 2003, als das idiotische, einige 100 Meter vom heutigen Bricherhaff entfernte Zweigstellenprojekt, das Gesetz vom 20.07.1998, von der Regierung für unsinnig erklärt und erst nach Vorschlag des Staatsrates durch das Gesetz vom 18.04.2013 (Art. 4) außer Kraft gesetzt wurde.
Bis dahin kann die Bibliothek von einem offenbar besser geführten Archiv lernen: Mehr als 45 Stunden (Nationalarchiv) versus 35 Stunden (Nationalbibliothek) geöffnet; chronische Unterbesetzung (Nationalarchiv) kontra fehlgeleitete partielle Überbesetzung (Nationalbibliothek); regelmäßiges Erscheinen neuer wissenschaftlicher Publikationen und Organisation von Ausstellungen (Nationalarchiv) kontra überaus seltene Veröffentlichungen und simple Bestandspräsentationen (Nationalbibliothek); allgemein gesundes (Nationalarchiv) versus schlechtes internes Betriebsklima (Nationalbibliothek). Ein Audit wäre wohl angebracht.
In Zeiten von Finanznöten nähern sich Archive und Bibliotheken einander gerne an. Seit dem ersten Organisationsgesetz vom 05.12.1958 teilen sich die beiden Institutionen eine gemeinsame Rechtsgeschichte. Von 1961 bis 1964 teilten sie sich sogar eine einzige Leitung. Ihre Personalzusammensetzungen ähneln sich. Ein Triple A-Staat, die Niederlande, überlegte vor kurzem, Nationalarchiv und -bibliothek zu fusionieren. Ein anderer, Kanada, hat das 2004 durchgezogen. Auch dies ist eine Einsparmöglichkeit. Sparen? Der Parlamentsdebatte vom 21.03.2013 nach zu urteilen, muss in diesem Lande genug Geld vorhanden sein. Finanzkrise? Welche Krise denn? Vielleicht eine „Wohlfühlkrise“ oder die der politischen Logik.