Syrien hat circa 23 Millionen Einwohner. Zwischen sieben und neun Millionen von ihnen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Die Vereinten Nationen erwarten bis Ende 2015 über vier Millionen syrische Flüchtlinge außerhalb des Landes. Der Exodus der Bevölkerung geht wie der Bürgerkrieg ungebrochen weiter. Weil das Durchschnittsalter der Syrer bei 20 Jahren liegt, sind unter den Flüchtlingen so viele Familien mit Kindern. Lieber gehen als sterben, das ist die Devise für viele Familien. Nie war dieser Satz wahrer: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Europa ist der Brennpunkt vieler individueller Hoffnungen. Länder, die sich seit Jahrzehnten weigern, sich als Einwanderungsgesellschaften zu begreifen, werden plötzlich von Hunderttausenden überlaufen. Der Einmarsch einer Armee könnte nicht effektiver sein, scheint es, so hilflos trifft Europa die größte Flüchtlingswelle nach dem zweiten Weltkrieg. Zuletzt hat Deutschland „für einige Wochen“ seine Grenzen zu Österreich geschlossen, damit alle Grenzgänger wieder ordentlich registriert werden können. Schon in dieser einfachen Grunddisziplin jedes souveränen Staates hat die EU versagt. Misst man die Aufgabe am Ansturm, hätte die Registrierung nur gelingen können, wenn an den griechischen und italienischen Küsten große Auffanglager errichtet worden wären, in die man die Flüchtlinge mit militärischer Gewalt und zu Abertausenden gezwungen hätte. Darauf war und ist die EU nicht vorbreitet, weder logistisch, noch psychologisch oder gar politisch. Und sie wird es auch in naher Zukunft nicht sein.
Knapp neun Milliarden Euro benötigt das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, der UNHCR, in diesem Jahr, um alle Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Syriens humanitär zu versorgen. Davon ist weniger als die Hälfte zugesagt. Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, gesundheitliche Versorgung, Schulen, das sind die dringendsten Aufgaben. Der Betrag ist nur eine Nothilfe, kein Aufbauprogramm. Den Menschen eine dauerhafte Existenz zu ermöglichen, wird erheblich teurer sein. Der Aufgabenkatalog hört sich nicht grundlegend anders an für das, was die EU für die Flüchtlinge in ihren Grenzen leisten muss. Der Gedanke liegt da nahe, das im Nahen Osten zu tun anstatt in Europa.
Einen Fonds hat die EU dafür im Dezember 2014 gegründet. Sein Name: Madad. Das ist Arabisch und bedeutet „Hilfe bereitstellen“. Im Juli 2015 hat sich das interne Führungsgremium von Madad zum ersten Mal getroffen. Bisher sind 40 Millionen Euro zugesagt, Deutschland will noch fünf Millionen drauflegen. Mit diesem Geld soll Flüchtlingen in den Nachbarländern Syriens geholfen werden. Um das effektiv tun zu können, fehlen also nur noch vier Milliarden. Immerhin ist noch im September ein Schulprogramm für Flüchtlingskinder in türkischen Lagern für mehr als 17 Millionen Euro angelaufen.
Den syrischen Flüchtlingen zu helfen, ob in den Nachbarländern oder in der EU, ist immer nur Symptombekämpfung. Dauerhafte Hilfe wird nur das Ende des syrischen Bürgerkriegs bringen. Mit der gerade erst bekannt gewordenen Aufrüstung Russlands in Syrien stehen die Zeichen eher auf Ausweitung, denn auf Frieden. Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, fordert nicht weniger als ein militärisches Eingreifen der EU. Mindestvoraussetzung für das Ende der Flüchtlingsströme seien Flugverbotszonen, die die USA gemeinsam mit der EU durchsetzen müssten. Das sei heute natürlich viel schwerer als vor drei oder vier Jahren. Durch die verstärkte russische Präsenz könnte es sogar zu einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland kommen. Bevor sich die EU-Mitgliedstaaten darauf einigen, diskutieren sie lieber noch einmal über die Verteilung von weiteren 120 000 Flüchtlingen (siehe Seite 2-3).
Diskutieren können und sich nicht die Köpfe einschlagen, das galt einmal als Markenzeichen Europas. Das ist nicht wenig, aber es reicht nicht mehr. Im Moment begleitet die EU die Gespräche in Libyen, die einen nationalen Neuanfang ermöglichen und nebenbei die Flüchtlingsströme von dort stoppen sollen. Im November wird es einen großen EU-Afrika-Gipfel in Addis Abeba geben, der explizit die afrikanische Migration nach Europa zu einem Schwerpunktthema macht. Vor allem wird es darum gehen, die Zusammenarbeit der Staaten zu verbessern. Die Antwort auf die Frage, wie man die Regierung Eritreas, die die Bewohner durch eine harte Diktatur aus dem Lande treibt, zu mehr Demokratie überredet, wird sich auch in Addis Abeba nicht finden lassen.
Mit Geld allein lassen sich die Probleme Europas und der Welt auf jeden Fall nicht lösen. Ein gutes Beispiel dafür ist der westliche Balkan, deren Länder sich über viel beklagen können, aber nicht über mangelnde finanzielle Unterstützung aus der EU. Als Folge eines jahrzehntelangen Geldstroms erleben wir zurzeit eine Massenflucht wegen fehlender wirtschaftlicher Perspektiven und Chancengleichheit auf dem Balkan. Im Rückblick wäre es vielleicht besser gewesen, einige der ehemaligen jugoslawischen Provinzen als EU-Protektorat zu verwalten.
Die Europäische Union verstand sich immer mehr als Verwalter gemeinsamer, weniger als Gestalter genuin europäischer Interessen. Insofern ist es natürlich, dass die EU zuerst nach innen blickt. Dieser Blick nach innen ist durch den Flüchtlingsstrom vor allem ein Blick auf die Krisen und Konflikte in unmittelbarer Nähe der Union geworden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen erkennen, dass man sich zwar aus dem Syrienkrieg heraushalten kann, dass man in Libyen eingreifen kann bis zum Tod Gaddafis, aber dass man nicht in der Lage ist, die Konsequenzen dieser Konflikte aus Europa herauszuhalten. Europa muss endlich einsehen, dass man sich die Probleme der Welt nicht vom Hals halten kann, indem man sich möglichst lange tot stellt.