In seiner Rede zur Lage der Europäischen Union ein Jahr nach seinem Amtsantritt räumte Jean-Claude Juncker am Mittwoch vor dem Europaparlament ein, dass die Europäische Union „in keinem guten Zustand“ sei. Als wollte er diese Feststellung an einem Beispiel veranschaulichen, widmete er den wichtigsten Teil seiner Rede dem Streit in der Union um die Asylsuchenden aus dem Nahen Osten und Nordafrika – und wiederholte nicht ohne Pathos die schon mehrfach von Großbritannien bis Tschechien gescheiterten Vorschläge zur Verteilung der Asylsuchenden unter den Mitgliedsländern.
Die Zeiten sind vorüber, da über die weitere Integration in der Europäischen Union diskutiert wurde, wie sie mit dem Abkommen von Schengen und der gemeinsamen Währung einen wohl für lange nicht zu übertreffenden Höhepunkt erreicht hatte. Die Finanz- und Wirtschaftskrise vor sieben Jahren hat die schon zuvor unübersehbare Wachstumskrise der Europäischen Union verschärft.
Statt der in den Verträgen versprochenen wirtschaftlichen und sozialen Konvergenz zwischen den Mitgliedsländern hat sie den Investitionsboom in der Peripherie beendet und die Divergenzen bis zur Zahlungsunfähigkeit einzelnen Staaten vergrößert. Die als Reaktion auf die Krise erfolgte neoliberale Radikalisierung, vor allem der Entfesselung der allgemeinen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt und der in der Euro-Zone institutionalisierten Austerität, hat in einer Union der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit den schon 2005 mit dem Europäischen Verfassungsvertrag schwindenden Sukkurs für die EU-Politik weiter verringert, wie die Europawahlen zeigten.
Der aggressive deutsche Merkantilismus auf Kosten der durch die Krise geschwächten anderen Mitgliedsländer hat die deutsche Vorherrschaft in der Union vergrößert. „In normalen Zeiten bin ich zwar ein überzeugter Verfechter der Gemeinschaftsmethode, aber in Krisenzeiten bin ich kein Purist: Es ist mir nicht wichtig, wie wir eine Krise managen, ob uns das durch zwischenstaatliche Lösungen oder Gemeinschaftsprozesse gelingt“, beschwichtigte Jean-Claude Juncker.
Die Integration der nach dem Ende des Kalten Kriegs aus geopolitischen Überlegungen aufgenommenen neuen Mitgliedsländer schafft nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Probleme. Jean-Claude Junckers Wunsch, „eine europäische Säule sozialer Rechte [zu] entwickeln“, klang da bestenfalls nach der Nostalgie eines Christlich-Sozialen aus dem vorigen Jahrhundert.
Statt der weiteren Integration scheint die Priorität der Amtszeit von Präsident Jean-Claude Juncker zu heißen, das Auseinanderfallen der Europäische Union zu verhindern. Der Austritt oder Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone wurde vor wenigen Wochen im letzten Augenblick verhindert, die Lösung der wirtschaftlichen Probleme Griechenlands wurde aber nur aufgeschoben. Die britische Regierung hat eine Volksbefragung über einen Austritt aus der Europäischen Union angekündigt, den Jean-Claude Juncker mit neuen Zugeständnissen an jene zu verhindern ankündigte, welche die Union auf einen großen Binnenmarkt zurückstutzen wollen.
Jean-Claude Juncker erinnerte am Mittwoch daran, dass er der erste Kommissionspräsident ist, der nach einem Wahlkampf als Spitzenkandidat für das Europaparlament bestimmt wurde und so „ein politischer Präsident“ einer „sehr politischen Kommission“ ist. Um ihm die Flügel zu stutzen, war deshalb gleich am Tag seiner Vereidigung die Luxleaks-Affäre publik gemacht worden.