Um über Zukunftsperspektiven für die Großregion zu diskutieren, luden am Montag das Institut der Großregion, die Handelskammer sowie zwei luxemburgische Thinktanks (Société luxembourgeoise de l’évaluation et de la prospective, Solep, und Stiftung Idea) nach Luxemburg-Kirchberg ein. Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können; anderthalb Stunden später begann in Esch-Belval parallel die Auftaktveranstaltung zur nationalen Wachstumsdebatte in der Maison du savoir. Trotz der brennenden Aktualität – Dynamik und Schwung kam bei der Expertenanhörung nicht auf. Außer blassen Powerpoint-Folien und wohlklingenden Schlagwörtern, dass die Großregion gelebter Alltag sei, die die Lebenswirklichkeit von Tausenden präge, gab es nichts Neues zu hören. Den Abschluss bildete ein etwas müder Appell, mehr Kooperation bei Themen wie der Digitalisierung, der Robotik, der Weiterbildung und in der Transportpolitik zu wagen.
Das lag zum Teil daran, dass alle Welt derzeit auf den Plan von US-Ökonom Jeremy Rifkin wartet, der nächste Woche vorgestellt wird und zentrale Linien für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Luxemburgs ziehen soll (siehe Seite 5). Corinne Cahen, liberale Ministerin für die Großregion, und Carlo Thelen, Geschäftsführer der Handelskammer, sprachen sich einmütig für mehr qualitatives statt quantitatives Wachstum aus, aber was das bezogen auf die Großregion konkret bedeutet, erläuterten sie nicht.
Klar ist: Egal, welches Entwicklungsszenario aus den Diskussionen um Rifkins „dritte industrielle Revolution“ handlungsleitend für die Politik werden wird, es geht nicht ohne die Großregion. 400 000 Unternehmen im Großraum Saarbrücken-Lothringen-Wallonien-Luxemburg repräsentieren ein Bruttoinlandsprodukt von 370 Milliarden Euro. Die Wirtschaft Luxemburgs und der umliegenden Nachbarregionen sind eng miteinander verwoben: Rund 180 000 Frontaliers passieren jeden Tag die Luxemburger Grenze. Der Jobmotor läuft hierzulande etwas langsamer, aber immer noch rund. Vor allem in Nischen wie IT und Fintech werden händeringend Fachkräfte gesucht. Im Gesundheits-, im Betreuungssektor oder beim Ingenieurwesen gilt die Großregion als weitgehend leergefischt. Heute legt eine wachsende Zahl an Grenzpendler Strecken von 50 Kilometer und mehr auf dem Weg zur Arbeit zurück.
Mehr ausländische Arbeitskräfte bedeuten mehr Transport, eine steigende Nachfrage nach Wohnraum im ohnehin vom Wohnungsnot arg geplagten Luxemburg (oder in Grenznähe), warnen nicht nur die Experten von Solep und Idea. Heute schon rollen rund 250 000 Berufspendler mit dem Auto auf den Straßen der Großregion, zwei Drittel dieser Menschen davon fahren täglich mit dem Pkw nach Luxemburg. In der Folge bilden sich auf den HauptVerkehrsachsen regelmäßig kilometerlange Staus, die Wohnungssuche erstreckt sich längst über die Landesgrenzen hinweg. Eine aktualisierte Studie des Luxembourg Institute of socio-economic research (Liser) und der Universität Aix-Marseille geht davon aus, dass sich die Zahl der ursprünglich luxemburgischen Grenzpendler, die jenseits der Grenze wohnen und für die Arbeit täglich zurück in die Heimat fahren, sich von 750 im Jahr 2001 auf über 2 200 im Jahr 2011 erhöht hat.
„Es gibt beim Transport viel Nachholbedarf“, räumt der grüne Nachhaltigkeitsminister François Bausch bereitwillig ein. Was es braucht, seien intelligente Mobilitätskonzepte, die den größten Druck aus dem Kessel nehmen, den Individualverkehr in geordnetere Bahnen lenken. Ministerin Corinne Cahen verdeutlichte die Dringlichkeit mit einer Zahl: Nur einer von zehn Grenzgängern nutzt den öffentlichen Transport. Neben der Tram, die im Zeitplan liegt, kommen verschiedene grenzüberschreitende Projekte aber nur langsam voran. Die Hälfte der in Luxemburg tätigen Berufspendler stammt aus Lothringen, dort staut sich der Verkehr am häufigsten. Für den besseren Anschluss hat die französische Eisenbahngesellschaft SNCF, auch auf Ersuchen Luxemburgs, den Takt ihrer Züge von Metz und Thionville erhöht. Luxemburg finanziert überdies Busse, die von Thionville täglich ins Großherzogtum fahren.
In Richtung Trier ist die Weststrecke beschlossene Sache, aber bis der erste Zug über Trier-West nach Luxemburg-Stadt fährt, werden noch zwei Jahre vergehen: Zuvor müssen die Bahnhöfe renoviert und behindertengerecht umgebaut werden. Die Regierung investiert massiv darin, den Umstieg vom Auto auf die Schiene oder Busse zu erleichtern: Bis 2020 sollen acht existierende Park-and-Ride-Flächen erweitert, vier neue geschaffen werden. In Wasserbillig ist geplant, bis zum Jahr 2017 insgesamt 500 Parkplätze für P+R-Nutzer zu schaffen. Und trotzdem: Wer von Trier bis Luxemburg-Hauptbahnhof 55 Minuten braucht (und danach womöglich weiter muss) und zudem häufiger erlebt, dass der Zug nicht pünktlich kommt oder ausfällt, ohne rechtzeitig über Alternativen informiert zu werden, für den dürften diese Verbesserungen kaum Anlass sein, auf das bequeme Auto zu verzichten.
Zum Forschungsstandort Esch-Belval gibt es keine direkte Verbindung aus Frankreich. Pendler sind gebeten, in Bettenburg umzusteigen. „Man kann das sicher diskutieren, ob man die Strecke wieder öffnet. Aber zunächst sollten wir abwarten, wie sich die Situation entwickelt“, findet Nachhaltigkeitsminister Bausch. Er verweist auf den besseren Stundentakt und die rasche Anbindung im Vergleich zu früher. Aber auch hier gilt: Wenn aus einer Stunde Anfahrt in einem völlig überfüllten Zug wegen Verspätung und Baustellen anderthalb Stunden werden, erscheint das Auto attraktiv, zumal bei den Spritpreisen. Und sitzt man erstmal drin, fällt das Umsteigen schwer.
Nicht alles, was derzeit klemmt, ist Versäumnis dieser Regierung. Zu lange wurden Entwicklungen verschlafen und wichtige Projekte kamen nicht voran. Die Schnellstraße, die Esch-Beval mit der A30 verbinden soll, ist seit Jahren geplant und sollte eigentlich provisorisch im Oktober an den Start gehen. Verzögerungen auf der französischen Seite sorgen dafür, dass sich der Zeitplan nun erneut verschiebt. Das Konzept der grenznahen Park-and-Ride-Stellplätze sollte zudem auf belgischer Seite ausgebaut werden. Dort ging es zuletzt schleppend voran. Mit dem belgischen Transportminister François Belot, der aus dem wallonischen Jemelle stammt, ist die Zuversicht bei den politisch Verantwortlichen, die Gespräche um einen P+R in Viville bald abschließen zu können, gewachsen. Die Luxemburger Regierung ist bereit, sich an Kosten zu beteiligen, besteht aber darauf, dass die Stellplätze kostenlos sein müssen: „Sonst ist es für die Autofahrer nicht attraktiv“, sagt Bausch. Mit der besseren Anbindung an das belgische Schienennetz muss die Taktung der Züge überdacht werden, und da hat die schwerfällige Eisenbahngesellschaft SNCB ein Wörtchen mitzureden.
Das blenden viele aus, die auf die Regierung beim schleppenden Ausbau der Infrastrukturen schimpfen: Die Entscheidungsprozesse sind kompliziert und manche Idee wurde gebremst, weil niemand da war, der die Sache in die Hand nahm und entscheidungsbefugt war. Der Interregionale Parlamentarier-Rat, in dem Abgeordnete der Regionen vertreten sind, wies 2014 eindringlich auf das gewaltige Verkehrsproblem hin, er hat aber nur beratende Funktion. Im Gipfel der Exekutiven der Großregion sitzen die Regierungsvertreter und Regionalvertretungen, aber selbst wenn es das höchste Entscheidungsgremium für die Großregion ist, muss das nicht viel heißen: Hinter der von Carlo Thelen von der Handelskammer bemängelten „institutionellen Blockade“ stehen historisch gewachsene politische Systeme.
Franz Clément, Arbeitsmarktforscher am Liser-Institut, hält daher beliebte Vergleiche der Großregion mit einer Art „Mini-Europa“ für fehl am Platz und spricht lieber von „grenzüberschreitender Kooperation“ statt von „politischer Integration“: Es gibt keinen Vertrag der Großregion, wonach die beteiligten Regionen ihre Entscheidungskompetenz teilweise delegieren. Während Luxemburg als souveräner Staat entscheiden kann und die Bundesländer im föderalen Deutschland eine gewisse Planungsautonomie genießen, sind die Entscheidungsbefugnisse und Zuständigkeiten der französischen Departments im zentralistischen Frankreich deutlich enger gefasst. „Um voranzukommen, sind bilaterale Abkommen oft der entscheidende Hebel“, sagt Clément und nennt als Beispiel das Schengen-Lyzeum. Die deutsch-luxemburgische Sekundarschule beruht auf einem Abkommen zwischen Luxemburg und der saarländischen Landesregierung.
Der „Mangel an Permanenz“, wie es Clément nennt, erschwert die Planung von mehrjährigen grenzüberschreitenden Planungsvorhaben zusätzlich. Landesentwicklung braucht lange Zeithorizonte. Um zu planen und umzusetzen, vergehen oft zehn und mehr Jahre. Politiker aber werden, je nachdem, für vier (Saarland, Rheinland-Pfalz) oder fünf Jahre (Belgien, Frankreich, Luxemburg) gewählt. Dass eines Tages ein rechtlich verbindliches IVL für die gesamte Großregion landesplanerische Entwicklungsschwerpunkte vorgeben könnte, wie ein Experte während der Konferenz kurz zu träumen wagte, verweisen Realpolitiker in den Bereich der Utopie: Schließlich müssten die Länder dafür Entscheidungsmacht an ein gemeinsames Gremium abtreten. Und das will niemand. So sehr die Regionen voneinander profitieren – sie sind auch knallharte Konkurrenten.
Nicht umsonst sind Fortschritte der überregionalen Zusammenarbeit in eher „soften“ Ressorts wie der Kultur und der Bildung zu verzeichnen. Mit der Kulturhauptstadt Luxemburg 2007 wurde die gesamte Großregion als Modell der europäischen Zusammenarbeit angeschoben. In der Folge entstand der Verein Kulturraum Großregion, der grenzüberschreitende Initiativen koordiniert und begleitet, sowie versucht, die Vernetzung der Regionen voranzutreiben. Es gibt Kritik: Die Vernetzung komme nicht wirklich voran, Projekte seien chronisch unterfinanziert. Es gibt aber Lichtblicke, etwa den mit 55 000 Euro jährlich dotierten Co-Entwicklungsfonds, mit dem der Film Fund Luxemburg, die Saarland Medien GmbH, die Deutsche Filmförderungsanstalt, die Région Alsace Champagne-Ardenne Lorraine, das Centre national du cinéma de l’image animée und die Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens mehr Filme aus der Großregion fördern wollen.
Im November 2014 unterzeichneten der luxemburgische Bildungs- und der Arbeitsminister, die Vertreter der regionalen Arbeitsämter, die Berufskammern und die Gewerkschaften aus der Großregion eine Rahmenvereinbarung zur Berufsausbildung und zur beruflichen Weiterbildung. Sie legt Ziele und Formen der Förderung einer grenzüberschreitenden Berufsausbildung fest. Im vergangenen Jahr traten Lehrlinge aus Rheinland-Pfalz in Luxemburg ihr erstes sprachlich begleitetes Praktikum an.
Am weitesten vorangeschritten ist die Zusammenarbeit auf der Ebene der Universitäten: Über 1 000 Studenten besuchen mittlerweile die Universität der Großregion. Dazu haben sich die Hochschulen in Lüttich, Saarland, Trier, Lothringen und Luxemburg zu einem Verbund zusammengeschlossen. Inzwischen sind 18 Studiengänge im Angebot, Studenten können Vorlesungen und Seminare an den jeweiligen Partneruniversitäten besuchen, ohne zusätzlich Studiengebühren zu zahlen, sie können Bibliotheken nutzen. Das geht nicht immer reibungslos, etwa wenn national unterschiedliche Tarifordnungen das Pendeln unnötig verkomplizieren. Die Uni der Großregion hat zwar einen Mobilitätsfonds, aber es gibt keinen Studentenfahrausweis, der Fahrten in der gesamten Großregion ermöglicht; viele Angebote enden an der jeweiligen Landesgrenze. Studenten forderten jüngst einen Gratistransport für alle Studierenden in der Großregion.
In anderen Feldern, die Luxemburgs Handelskammer pushen will, fehlt es komplett an einer grenzüberschreitenden Abstimmung. Luxemburg hat das Hochgeschwindigkeitsnetz in den vergangenen Jahren ausgebaut, die Regierung investiert massiv in den IT-Sektor. Die Nachbarländer schlafen nicht (länger): Rheinland-Pfalz und das Saarland haben dieses Jahr ihre eigenen Programme aufgesetzt, um die regionalen Hochgeschwindigkeitsnetze flächendeckend auszubauen. Rheinland-Pfalz investiert zudem bis 2018 über 55 Millionen Euro in die Digitalisierung; ähnlich die saarländische Regierung, die eigens einen Rat eingesetzt hat, der die Digitalisierung koordinieren und vorantreiben soll. Die Idea-Stiftung forderte am Montag in einem Sieben-Punkte-Plan ein überregionales Kolloquium, das die verschiedenen Aktionen im Bereich Digitalisierung in den Grenzregionen aufeinander abstimmen soll. Dass sich die Regionen hier ernsthaft zusammenschließen oder von vornherein Synergien durch eine intelligente Arbeitsteilung schaffen, scheint angesichts der enormen Bedeutung, die eine perfomante digitale Infrastruktur für die Attraktivität des jeweiligen regionalen Standorts hat, aber eher unwahrscheinlich. Von anderen Ideen, etwa die Telearbeit daheim zu fördern und so Mobilitätsprobleme zumindest zu mindern, war auf der Konferenz keine Rede.
Und dann ist da die große Unbekannte, was die jeweiligen Bevölkerungen von den Entwicklungsszenarien halten. Was die Regierung und die Herren der Handelskammer als Chancen anpreisen, wird nicht unbedingt überall geteilt: Die Stimmung hierzulande ist angespannt, die Kampagne, Luxemburgisch zur ersten Amtssprache aufzuwerten, zeugt vom Versuch von Einheimischen, sich von der (nicht-luxemburgischsprachigen) Konkurrenz abzuheben. Einer Umfrage der Beraterfirma Atoz von diesem Jahr zufolge bewerten Franzosen, Belgier und Deutsche die Großregion überwiegend positiv: Die Lebensqualität in Luxemburg schätzen sie vergleichsweise hoch ein. Für sie ist das Großherzogtum ein Wirtschaftsmotor, von dem die ganze Region profitiert und ein Land, das es durch geschicktes Agieren und kurze, pragmatische Entscheidungswege vermag, lukrative Nischen aufzubauen. Laut einer Studie der Uni Luxemburg von 2010, die Haushaltstypen nach Einkommen und Status differenzierte, sahen umgekehrt kleinbürgerliche Haushalte hierzulande die Luxemburger Sprache durch Grenzgänger bedroht. Nur etwas mehr als ein Drittel, 38 Prozent, verneinte die Aussage, Grenzgänger nähmen Luxemburgern die Arbeitsplätze weg.
Auf der Konferenz war die soziale Kohäsion, etwa angesichts der Automatisierung der Arbeitswelt, kein Thema. Wohin es führen kann, wenn Politik und Wirtschaft ein wachsendes Unbehagen in der Bevölkerung unterschätzen, lässt sich am Brexit und am Wahlerfolg des Populisten Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl ablesen. Inwiefern da eine offene und breit angelegte Wachstumsdebatte helfen kann, die die Großregion partnerschaftlich früh einbezieht, ist unklar. Die Regierung hat angekündigt, die Wachstumsszenarien auf Regionalkonferenzen zu diskutieren. Dort könnten sich Pendler und ausländische Mitbürger einbringen. Gezielt angesprochen wurden sie bisher nicht.
Die Offenheit hat Grenzen: Das Referendum zum Ausländer-Wahlrecht im Juni 2015 hat gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit der einheimischen Luxemburger lieber ein demokratisches Defizit im Land hinnimmt, statt als Konkurrenten empfundene Mitbürger/innen an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Solche Ressentiments könnten in der Wachstumsdebatte befeuert werden, schließlich geht es um die brisante Frage, wer vom Wohlstand profitiert und wie dieser künftig zu verteilen ist. In regierungskritischen sozialen Netzwerken wird das Bild vom armen Luxemburger, der jenseits der Grenze wohnt, weil er sich in der Heimat kein Dach überm Kopf mehr leisten kann, beschworen, ungeachtet seines tatsächlichen Realitätsgehalts. Ausgeblendet wird, dass, wie Patrick Bousch, Forscher und Koordinator am Liser-Institut betont, andere Nationalitäten von dieser Entwicklung gleichermaßen betroffen sind. Wie wenig Fakten und fundierte Einschätzungen von Experten für all die Unzufriedenen zählen, die meinen, ihren Schuldigen schon gefunden haben, ist eine weitere Lehre aus den vergangenen Monaten. Kein leichtes Umfeld für eine sachliche und inklusive Wachstumsdebatte.