Mit der Vorlage der Europop-Studie zur demografischen Entwicklung der EU-Mitgliedstaaten und ihren längerfristigen Konsequenzen wurde in dem mit vorausschauender Planung nicht gerade gesegneten Großherzogtum plötzlich ein vitales Interesse an Zukunft geweckt. Am Horizont leuchtet die Vision eines 1,1-Millionen-Volkes, das Luxemburg danach im Jahr 2060 darstellen könnte. Wie zu erwarten war, sind die Meinungen über diese Aussicht sehr gemischt: Für die einen ist diese Vision eine Bedrohung, für die anderen eine Verheißung. Schnell werden Konsequenzen durchgespielt und wachstumsträchtige Planzahlen diskutiert.
Prinzipiell könnte man eine solche Debatte durchaus begrüßen, denn sie würde – auf den ersten Blick betrachtet – ein offensichtliches Vakuum füllen: Wo im Land gibt es Strategien der Landes- und Kommunalentwicklung, in die sich Einzelvorhaben einreihen und die über den Tag hinaus reichen? Sieht man von der überaus ambitionierten Mobilitätspolitik ab, dann herrscht auf weiter Strecke Fehlanzeige – beim Staat, in der Hauptstadt, in vielen anderen Gemeinden. Mehr oder minder routiniert arbeitet man seine anstehenden Aufgaben ab, bedient relevante Lobbies, versucht alle glücklich zu machen. Angesichts des stetigen Wachstums von Bevölkerung, Wirtschaft und Bautätigkeit ist man damit auch mehr als ausgelastet. Keine Zeit für Strategien.
Auf den zweiten Blick gibt dieses Vakuum zu denken, denn Debatten zur Zukunft hat es hierzulande durchaus gegeben. Allerdings waren sie nur von sehr begrenzter Haltbarkeit, und das ist das Problem. Erinnert sich noch jemand an 2030.lu und an 5 vir 12? Tempi passati. Diese Debatten fanden wohl auf einem anderen Planeten statt, sind nicht einmal in den Vorhof der Macht vorgedrungen, geschweige in ihren Maschinenraum.
Politisch delikat ist das nun ausgebrochene Zukunftsfieber auch deshalb, weil grundsätzliche Auseinandersetzungen zur Zukunft Luxemburgs gerade von denjenigen, die sie jetzt massiv einfordern (der CSV), selbst nicht wirklich geführt wurden – zumindest nicht in jüngerer Zeit und nicht in solchen Formaten, die diesem Thema angemessen wären. Ausgerechnet von konservativer Seite lässt sich die Regierung nun mit ihrer Ankündigung eines Anscheins von Zukunftsdebatte treiben, und sie droht dabei tendenziell vom einen Extrem (Tagespolitik) ins andere zu fallen (ferne Zukunft). In einem großen Bogen wird versucht, die Implikationen einer komplexen Zukunft für aktuelle Entscheidungen zu bestimmen.
Da möchte man glatt fragen, ob es auch etwas bescheidener ginge: Könnte man nicht in kleinen, aber glaubwürdigen Schritten anfangen, sich mit den aktuellen und zugleich den vor uns liegenden Problemen zu befassen, statt umstandslos aus Vergangenheit und Gegenwart in eine sehr ferne Zukunft zu springen? Vor allem mit der avisierten Zeitschiene 2060, die das Luxemburger Wort mit seiner Berichterstattung massiv auf die Agenda gehoben hat, ist die Debatte auf eine schiefe Ebene geraten. Mit dieser Zeitachse läuft der Diskurs aus dem Ruder, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Denn über vierzig Jahre ins Voraus kann eigentlich niemand seriös blicken, Entwicklungen bewerten, Konsequenzen abschätzen. Vor vierzig Jahren stand die Mauer in Berlin, gab es kein Internet, und was Klimawandel bedeutete, wussten die wenigsten unter uns ... Hätte man darauf spekulieren können, sich darauf sinnvoll einrichten können? Wohl kaum.
Stattdessen läuft das Kaninchen Luxemburg hinter der Schlange Wachstum her und versucht zu überholen statt zu erstarren – beides ist aber ungesund. Plötzlich reden alle bereits darüber, wie man eine Verdoppelung der Bevölkerung konkret und en passant würde realisieren können. Auch siebenhunderttausend bis achthunderttausend Einwohner sollen keine Angst machen, glaubt man dem für nachhaltige Entwicklung zuständigen Minister.
Solche Aussagen sind ziemlich gewagt angesichts der Nicht-Nachhaltigkeit des Status Quo, erst recht im Licht der Unsicherheiten auf den in Rede stehenden Zeitachsen. Zu glauben, dass man so komplexe Situationen wie die Nischenökonomie des Großherzogtums auf lange Sicht vorausplanen und kontrollieren kann, atmet den Hautgout der Märchenstunde – wo schon die Tagespolitik recht hoffnungslos im Hamsterrad der nachholenden Entwicklung und Wachstumssicherung verfangen ist.
In diesem Momentum will auch der Lockvogel „qualitatives Wachstum“ nicht überzeugen, den die Regierung offenbar auswirft, um einerseits in der anschwellenden Debatte um die Zukunft nicht ganz ohne Positionierung da zu stehen, sich andererseits aber nicht auf das Glatteis der von der CSV geforderten Diskussion zu begeben. Denn was hier qualitativ sein soll, bis wann und warum, und in welcher Relation dies zum aktuellen quantitativen Entwicklungsdruck stünde – das muss man erst einmal definieren beziehungsweise plausibel erklären.
Das ist auch deshalb eine Kunst, weil die große Politik hierzulande nicht einmal im Rahmen einer Zukunftsdebatte den Mut aufbringt, quantitatives Wachstum in Frage zu stellen. Und hier liegt sicher ein springender Punkt: Wer großartig nach A (Zukunft) fragt, sollte sich hinreichend ehrlich machen, um B (Wirtschaftswachstum, Sozialsystem), C (Ökologie) oder D (politische Ökonomie) aufs Tapet zu bringen. Andernfalls landet man in der gleichen Sackgasse wie in der Causa Rifkin: Einen ausgewiesenen Wachstumskritiker zu engagieren, den Fetisch Wachstum aber vorab für nicht verhandelbar zu erklären – das ist schon verwegen, soviel Chuzpe muss man haben. Mit dieser Einstellung sind die Zukunftsdiskurse schon an der trüben Gegenwart gescheitert, bevor das Morgen überhaupt richtig ins Visier gerät.
Dass die Debatte um das 1,1-Millionen-Land auch inhaltlich recht kurz gesprungen ist, lässt sich kurz ausführen. Zweifel bestehen beispielsweise im Angesicht der verwendeten Kennziffer, um die die ganze Debatte kreist: die langfristig zu erwartende Bevölkerungszahl. Die für den hiesigen Standort viel aussagekräftigere Kenngröße ist die Zahl der Arbeitsplätze – und zwar absolut wie auch vor allem in Relation zur Wohnbevölkerung. Hier ist die treibende Dynamik, hier werden real existierende Ungleichheiten erzeugt und reproduziert. Solange der Finanzplatz im allgemeinen und die Anforderungen des Büromarktes im besonderen den Ton in der Stadtentwicklung angeben, solange dürften alle anderen Belange nachrangig bleiben. Dieses Problem spielt jedoch im Moment nur eine untergeordnete Rolle, was den Möglichkeitsraum dieser Diskussion ganz erheblich einschränkt.
Ein zweiter Aspekt: Wie andere Diskurse in Landesentwicklung und Landesplanung wird auch diese Debatte weitgehend bestimmt von quantitativen Daten. Man extrapoliert Trends aus der Gegenwart in die Zukunft, und die Eckdaten für diese Trends sind überwiegend statistisch generiert beziehungsweise quantitativer Natur. Fragen der Lebensqualität und Lebensweise kommen hier kaum vor — sieht man vom Mantra der Politik ab, die zwar jeden Quadratmeter Baulandreserve im Sinne von Dichte und Innenentwicklung mobilisieren will, Lebensqualität aber zugleich unbeeinträchtigt sieht.
Genau hier liegt ein Dilemma, das sich mit weiterem Wachstum von Bevölkerung und Arbeitsplätzen zu einer echten Krise auswächst. Denn während der Immobilienmarkt den Nachfragern nach Wohnraum unverträglich hohe Kosten für Wohneigentum und/oder Miete aufzwingt, werden parallel die Grenzen von Dichte offensichtlich – ganz gleich ob sie topografischer, städtebaulicher oder institutioneller Natur sind. Baulückenprogramme und Nachverdichtung sind die Hebel, mit denen immer mehr Nutzfläche in den begrenzten Stadtraum gepresst werden soll. Das ist äußerst lukrativ für Grundeigentümer und Makler, stößt sich ceteris paribus aber am hohen Verkehrsaufkommen und wirft Risiken im Bereich der Gesundheitsvorsorge auf. Die Sensibilisierung für die Probleme der Stadterweiterung (Flächenverbrauch, „Zersiedelung“) hat im Umkehrschluss zu einer Überhöhung der kompakten Stadt als Ideal geführt. Dabei werden die immanenten Probleme und Risiken zu hoher Dichte unterschätzt. Je dichter gebaut und gewohnt wird, umso größer ist das Stresspotenzial, denn auch die zusätzlichen Stadtbürger haben ihre spezifischen Ansprüche an den Raum, brauchen Tiefgaragen, wollen unterwegs sein, et cetera. Auch aus Sicht des Klimawandels ist die dicht gebaute Stadt ambivalent: Lärm, Luftverschmutzung und Hitzestress müssen durch ein hohes Maß an Pufferzonen und Durchgrünung kompensiert werden, durch Freiflächen, Parks, Zwischennutzungen und so fort. Das bereits bestehende und künftig absehbare Level von baulicher Dichte und Wohndichte lässt dies im Grunde kaum mehr zu.
Last but not least findet die 1,1-Millionen-(Menschen)-Debatte fast ausschließlich in den Grenzen des Großherzogtums statt. Sie hätte es aber verdient, gegenüber den Nachbarregionen geöffnet zu werden. Seit dem Abschluss des Schengen-Abkommens hat sich in der Großregion ein neuer transnationaler Wohnungsmarkt etabliert, der gerade durch die anhaltende Verknappung von Wohnraum in Luxemburg weiter an Bedeutung gewinnt. Setzt man die besiedelbare Fläche des Landes als begrenzt voraus, und bleibt die Preislage (auch spekulativ bedingt) so kritisch wie momentan, dann ist das Ausweichen auf die Großregion nur zwangsläufig. Ließe sich diese Bewegung nicht auch durch gezieltes Handeln gemeinsam mit den Nachbarn steuern, statt sie dem Erfindungsreichtum von Entwicklern zu überlassen?
Wie geht es weiter mit der Zukunft, wie kann das Vakuum an wegweisenden Ideen für die künftige Landesentwicklung sinnvoll gefüllt werden? Zweifellos haben das Land und seine Städte Bedarf an Orientierung, brauchen sie Leitbilder und Strategien für die nahe Zukunft. Zu hoch ist der Entwicklungsdruck, zu offensichtlich sind die gesellschaftlichen und planerischen Konflikte, die großen Herausforderungen wie Rente oder Klimawandel noch gar nicht eingerechnet, als dass man sich weiter geschäftige Perspektivlosigkeit leisten könnte.
Mögliche Leitideen kann man zum Beispiel in die Form von Zukunftsbildern oder Szenarien gießen, vor allem auf mittlerer Zeitschiene (weniger mit Blick auf das unbestimmte Wolkenkuckucksheim von 2060). Leitbilder können eine Zukunftsdebatte sinnvoll strukturieren, indem sie aktuelle Probleme und Herausforderungen mit auf mittlerer Sicht wirkenden Maßnahmen verbinden. Auf diese Weise werden die Ziele und Qualitäten eines künftigen Pfades anschaulich gemacht. In einer solchen Diskussion geht es auch nicht nur um die Vermittlung einer einzigen, objektiv wahren und vermeintlich richtigen Vorstellung von Zukunft, sondern es werden verschieden (!) mögliche Entwürfe von Zukünften (Plural!) zur Diskussion gestellt. Auf diese Weise helfen Leitbilder die Komplexität der Raumentwicklung zu reduzieren und fördern damit die politische Meinungsbildung über die Zukunft.
Wenn die Art, wie diese Debatten geführt werden, auch etwas über ihre Erfolgsaussichten mitteilt, dann stellt sich die Frage, ob aus der bizarren 2060-Diskussion noch ein konstruktiver, nachhaltig wirksamer Dialog werden kann. Dies hängt entscheidend davon ab, inwieweit dem Zukunftsdiskurs Zeit und Raum zur Entfaltung eingeräumt wird. Soll es nur einige pompöse Events geben, die primär dazu dienen, ein lästiges Dossier vom Tisch zu bekommen? Oder will man den Diskurs er-öffnen, konkurrierende Positionen anhören, sich Zeit nehmen zur Reflexion, Entscheidungsalternativen sorgfältig abwägen? Man könnte ja gründliche Verständigung anstreben, ohne gleich auf Alles die richtige Antwort haben zu müssen. Die Welt ist komplex, die Zeit schnelllebig, die Lösungen von gestern sind noch schneller wieder verworfen. Manche erinnern sich noch an die weihevolle Präsentation der Sektorpläne im Jahr 2014 unter anderem im Großen Theater der Stadt, die als der Raumplanungsweisheit letzter Schluss verkauft, kurz darauf jedoch aus dem Verfahren genommen wurden. Im Grunde hätte man sich zwei Jahre lang einen strukturierten, offenen Zukunftsdiskurs leisten können, wenn man gewollt hätte, und womöglich wäre man heute weiter.
Einfache Lösungen gibt es nicht, und die handelnden Akteure sind um ihr Dilemma nicht zu beneiden: Einerseits werden in zunehmendem Maße Schritte in Richtung einer „integrierten“ oder nachhaltigen Entwicklung gefordert. Sie sollen das Siedlungswachstum begrenzen beziehungsweise nach innen kanalisieren, Mobilität und Raumentwicklung verzahnen, für Entlastung auf dem Wohnungsmarkt sorgen, zugleich aber die Lebensqualität erhöhen; dies alles nach Möglichkeit noch garniert mit spektakulärer Architektur. Nirgendwo auf diesem Planeten wird Raum- oder Landesplanung ein solches Bündel von Ansprüchen realistisch einlösen können. Das heißt im Grunde auch, dass man die Landesplanung selbst vor dieser Erwartung bewahren muss.
Andererseits wird jeder Versuch von übergreifender Koordinierung zunichte gemacht, indem man die anstehenden Aufgaben im Kern als rationale, technische Steuerung einzelner Sektoren auffasst. Diese sind, wie man exemplarisch am Wohnungsbau studieren kann, im Geflecht von Institutionen, rechtlicher Regulierung und ökonomischen Interessen so „zugestellt“, dass es kaum Alternativen zum Status Quo gibt. Zukunftsfragen werden so ihres gesellschaftlichen, sozioökonomischen und politischen Kontextes entledigt. Nachhaltigkeit ja bitte, aber über Wachstum und Nischenökonomie, über Bodenspekulation oder Tanktourismus wollen wir dann doch lieber nicht reden. Diese Scheuklappen machen den Zukunftsdiskurs eher zur krampfhaften Science-Fiction denn zu einem robusten Handlungsprogramm, das über den Tag und den Tellerrand des Selbstverständlichen hinaus Orientierung für die mittelfristige Entwicklung geben könnte.