Als im Februar 2015 der so genannte „Artuso-Bericht“1 vorgestellt wurde, meinte Premierminister Bettel, dies sei nur der Anfang von weiteren Recherchen zum Thema Shoah und Luxemburg. Seitdem hat es einige Stellungnahmen2, aber auch weitere Dokumentenfunde3 gegeben und die Debatte ist sicher noch nicht zu Ende. Die Diskussionen, die einige Journalisten gar zum „Historikerstreit“ hochstilisierten, haben mein Interesse geweckt. Im intensiven Austausch mit meinem Kollegen Georges Büchler wurde ich auf Dokumente im Nationalarchiv in Luxemburg4 aufmerksam gemacht, die ich der Öffentlichkeit nicht vorenthalten möchte, da sie meines Erachtens dazu beitragen, gewisse Schlussfolgerungen des genannten Berichtes zu nuancieren. Bei diesen Gesprächen ist mir auch klar geworden, dass eine weitere Kontextualisierung der antisemitischen Maßnahmen der deutschen Besatzer notwendig ist, um ein möglichst vollständiges Bild der Lage in den ersten Monaten der Gauleiterherrschaft zu zeichnen und die Verantwortlichkeiten klarer zu identifizieren.
In einem Ordner des Bestandes FD0083 (Fonds divers: Consistoire)5 fiel mir ein einzelnes Dokument auf, das sowohl vom Inhalt als auch vom Datum her von großer Bedeutung bei der Frage nach der Erstellung von Listen der jüdischen Bevölkerung in Luxemburg ist. Es handelt sich bei dem Schreiben vom 20.8.1940, adressiert an das „Einsatzkommando der Sicherheitspolizei z/H. des Herrn Leutnant Scholtz6 in Luxemburg“; nicht um das Original, sondern um einen Durchschlag, es fehlen Briefkopf und Unterschriften. Als Absender lässt sich auf Grund der angegebenen Adresse „Petrussring 74“7 das Konsistorium der israelitischen Kultusgemeinde ausmachen, das in diesem Gebäude damals seinen Sitz hatte.
Inhalt des Schreibens ist die Übersendung einer „Liste der im Bereiche der Stadt Luxemburg ansässigen Juden […], wie wir sie nach mühevoller Erhebung bisher ermitteln konnten“. Die Liste selbst befindet sich nicht in der Akte. In einer anderen Akte des gleichen Bestandes finden sich jedoch Kopien von Listen von Juden, die unter dem Datum des 18.8.1940 von der luxemburgischen Polizei aufgestellt wurden8. Obschon es schwer vorstellbar ist, dass das Konsistorium Listen, die von der Polizei aufgestellt wurden, an die Gestapo übermittelte, ist es aber auch verwunderlich, dass gleichzeitig Listen der Juden in Luxemburg sowohl von der Polizei als auch vom Konsistorium aufgestellt und an die Gestapo übermittelt wurden. Dies wirft zahlreiche Fragen auf, die beim jetzigen Wissensstand nicht beantwortet werden können.
Doch kommen wir zurück zum Schreiben vom 20.8.1940. Die Verfasser des Briefes weisen darauf hin, dass sie für „die Vollständigkeit dieser Liste aus den Ihnen bekannt gegebenen Gründen keine Verantwortung übernehmen können“. Man verspricht, eine Nachtragsliste „in Kürze zu überreichen“ [...] „Letzteres gilt auch für die Landgemeinden, in denen wir Glaubensgenossen mit der Aufstellung von solchen Listen in ihren Kreisen beauftragt haben.“ Eine Ausnahme bildet jedoch das „Evakuierungsgebiet im Süden des Landes, für das wir solche Listen zusammenzustellen auf Grund der tatsächlichen Lage nicht imstande sind“.
Dieses Schreiben erschüttert meines Erachtens die bisher angenommene Chronologie dann doch stark, da aus ihm klar zu ersehen ist, dass schon Anfang August 1940 die Gestapo die Aufstellung einer Liste der jüdischen Einwohner Luxemburgs beim Konsistorium angefragt hatte. Dabei hatte das Konsistorium, auf die schwierigen Umstände im Lande hingewiesen, auf die Kommunikationsprobleme und die Evakuierung der Bevölkerung des Südens. Anfrage und Antwort scheinen mündlich erfolgt zu sein, darauf lässt die falsche Namensangabe beim Adressaten schließen. Dazu wissen wir, dass der Rabbiner täglich um sieben Uhr in der Frühe bei der Gestapo vorsprechen musste, um gegebenenfalls Anordnungen entgegen zu nehmen9.
Das Schreiben vom 20. August zeigt eindeutig, dass die Gestapo sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt10 an das Konsistorium wandte, um eine Liste der in Luxemburg lebenden Juden zu erhalten. Das Konsistorium hat diese Listen in kürzester Zeit geliefert, so dass nun die Verantwortung für die Erstellung von Listen nicht mehr der Polizei und/oder der Luxemburger Verwaltungskommission alleine angelastet werden kann, wie Vincent Artuso geschrieben hatte.
Ein weiterer Punkt, der meines Erachtens bei Artuso etwas zu kurz kommt, ist die Darstellung der antisemitischen Politik der deutschen Besatzer selbst. Sicher ging es in seinem Bericht für den Premierminister in erster Linie darum, festzustellen, ob und in welchem Maße die luxemburgischen Behörden eine Mitverantwortung an den ersten antisemitischen Maßnahmen der Deutschen trugen. Doch ohne die antisemitische Politik, die vom Gauleiter initiiert wurde, wäre den Juden in dieser Anfangsphase der Besatzung nicht allzu viel passiert, auch wenn viele Luxemburger nicht sehr glücklich über die zahlreichen jüdischen (deutschen und osteuropäischen) Flüchtlinge waren und hofften, dass sie das Land schnell verlassen würden.
Bevor das Handeln der Verwaltungskommission oder einzelner Beamter aber beurteilt werden kann, sollte deshalb klar herausgearbeitet werden, wann und wie die Deutschen (Gauleiter, SS, Gestapo) gegen die Juden vorgingen. Dabei muss auch hervorgehoben werden, dass 1940 an eine Ermordung der Juden noch nicht gedacht wurde, sondern die „Abschiebung“ der Juden aus Deutschland und den seit 1939 besetzten Gebieten Hauptziel der deutschen antisemitischen Politik war. Auch wenn das Vorgehen der Wehrmacht in Polen als verbrecherisch zu bezeichnen ist11, war der Westfeldzug davon noch kaum gekennzeichnet. Am 10. Mai versicherte der Oberquartiermeister der Heeresgruppe A, Generalmajor Helge Auleb, dem Chef der Verwaltungskommission, Albert Wehrer, dass eine Einführung der Rassengesetze in Luxemburg nicht in Frage komme. Anfang Juni bekräftigte Generaloberst Walter von Reichenau, Befehlshaber der 6. Armee, dem Rabbiner freie Religionsausübung für die Juden in Luxemburg12.
Erst mit der Einsetzung von Gauleiter Gustav Simon als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg am 21. Juli 1940 zeigten sich erste Anzeichen der antisemitischen Politik. Während des Monats August wurden Überlegungen dazu angestellt und erste Entscheidungen getroffen, dies aber, wie mir scheint, ohne dass der Gauleiter sich darum kümmerte, was denn die luxemburgische Verwaltungskommission in dieser Frage dachte und tat. Anders als die Militärs der Wehrmacht suchte er nicht den Kontakt mit Wehrer.
Eine erste und wohl einzige Unterredung zwischen dem Gauleiter und den Mitgliedern der Verwaltungskommission erfolgte am 13. August 194013. Bei diesem Treffen, das erst auf Anfrage des Vorsitzenden der Verwaltungskommission Albert Wehrer und durch Vermittlung von Regierungspräsident Siekmeier14 zustande kam, wurde den Mitgliedern der Verwaltungskommission eindeutig klar gemacht, dass sie sich den Anordnungen des Gauleiters zu beugen hätten und keine Eigeninitiativen ihrerseits geduldet würden. Für Artuso gilt das Bestätigungsschreiben von Wehrer auf den Brief des Ständigen Vertreters des Chefs der Zivilverwaltung, Regierungspräsident Siekmeier15, welcher verbot, Juden16 nach Luxemburg zurückkommen zu lassen, als entscheidender Beleg für die negative Haltung der Verwaltungskommission gegenüber den Juden, ob sie nun als Ausländer, Staatenlose oder Luxemburger nach Frankreich evakuiert worden waren. Er ist überzeugt, dass die Verwaltungskommission hier entschieden hätte protestieren müssen. Wehrers Schreiben ist auf den 13. August 1940 datiert17. Man darf annehmen, dass dieses Schreiben erst nach der Unterredung mit dem Gauleiter abging, als den Mitgliedern der Verwaltungskommission klar war, dass jede Kritik, die sich aus juristischen oder technischen Fragen betreffend dieses Rückkehrverbot ergab, sinnlos war. Simon war für solche Argumente absolut unempfänglich.
Ich habe große Zweifel daran, dass sich Artusos Schlussfolgerungen und Kritik am ausgebliebenen Protest bei dieser chronologischen Einordnung der Ereignisse aufrechterhalten lassen.
Eine weitere Frage ergibt sich betreffend die praktische Durchführung des Rückkehrverbotes18. Bei der Rückführung der Evakuierten aus Frankreich scheint das Verbot nach jetzigem Wissensstand keine Folgen gehabt zu haben. Wir wissen nicht ob, und wenn ja, wie viele Juden zurückgewiesen wurden. Es sind aber Einzelfälle bekannt, wo ausländische Juden problemlos nach Luxemburg zurückkehren konnten. So zum Beispiel die Familie Schlang, polnischer Nationalität, die etwa Mitte August nach Esch/Alzette in ihre Wohnung zurückkehrte19. Sie wurde am 16. Oktober 1941 ins Ghetto Litzmannstadt deportiert. Nur der Sohn Josy überlebte und kehrte 1945 nach Esch zurück.
Ab Mitte August unternahm Gauleiter Simon erste gesetzgeberische Schritte, um in Luxemburg eine antisemitische Gesetzgebung nach deutschem Vorbild einzuführen. Dabei setzte er sich gegen die vom Reichsjustizminister und dem Reichsinnenminister gemachten Vorbehalte durch indem er beim „Führer“ die Zustimmung für sein Vorgehen einholte. Am 7. September 1940 wurden die entsprechenden Verordnungen in der Presse publiziert20. Sie traten am Tage danach in Kraft. Auch dieses Datum erscheint im Nachhinein nicht zufällig gewählt worden zu sein, war doch für den 8. September der Besuch von Reichsführer-SS Heinrich Himmler angekündigt worden. Die Veröffentlichung dieser Verordnungen ist aber auch Ausdruck einer bestimmten Politik. Simon setzte hier ein deutliches Zeichen in Bezug auf die Angleichung der rechtlichen Verhältnisse für die Juden in Luxemburg und Deutschland. Eine Gleichstellung der Luxemburger und deutschen Juden machte aber nur Sinn, wenn er davon ausging, dass die Luxemburger Juden wie ihre Glaubensbrüder in Deutschland noch einige Zeit dort leben würden.
Man geht wohl richtig in der Annahme, dass diese Publikation Himmler beeindrucken sollte. Wahrscheinlich provozierte sie aber bei ihm eher den Wunsch, die Juden aus Luxemburg bald abzuschieben, denn schon am 12. September wurde die Gestapo aktiv und verlangte vom Rabbiner, dass alle Juden innerhalb von 14 Tagen Luxemburg verlassen müssten. Eine Absprache mit dem Gauleiter ist nicht belegt21. Wäre diese Vertreibung in ihrer Radikalität durchgeführt worden, hätten Simons Verordnungen aber doch wohl lächerlich gewirkt. Immerhin adressierte auch das Konsistorium seine Denkschrift vom 16. September an Himmler22 und bot an, mitzuhelfen die Ausreise über einen längeren Zeitraum in geregelter Form durchzuführen.
Simons Politik musste bei der SS und bei Heinrich Himmler auf Ablehnung stoßen. In diesen Kreisen dachte man damals schon in anderen Kategorien. Dies zeigte sich während der Inspektionsreise, die Himmler vom 5. zum 8. September 1940 in die „neuen“ Westgebiete (Elsass-Lothringen und Luxemburg) unternahm23. Am 5. September landete er, aus Berlin kommend, in Luxeuil und fuhr dann nach Munster. In Luxeuil wurde er von SS-Gruppenführer Kurt Kaul (HSSPF24 Südwest) empfangen und hatte mit diesem eine Besprechung, bei der es in erster Linie um die Werbung für SS und Polizei im Elsass ging. Dabei wurde aber auch die Frage der Abschiebung von „Elsässern von guter Rasse, die keine politischen Schwierigkeiten verursachten“25, besprochen. Ob die Frage einer Abschiebung von Juden aus dem Elsass zur Sprache kam, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Immerhin waren kurz vorher, Ende Juli 1940, etwa 3 000 elsässische Juden nach Vichy-Frankreich abgeschoben worden und Himmler sah diese Abschiebungen in einem Zusammenhang mit jenen in den eingegliederten Gebieten im Osten26, wie aus seiner Ansprache an das Offizierskorps der Leibstandarte-SS „Adolf Hitler“27 in Metz am 7.9.1940 ersichtlich wird. Am Tage vorher hatte Himmler noch die Steinbrüche von Senones und Natzweiler besichtigt. Um 18 Uhr hatte ihn dann SS-Gruppenführer Theodor Berkelmann28 (HSSPF Saar-Lothringen) in Saverne erwartet und war mit ihm nach Lunéville gefahren. Am Vormittag des 7.9. ging die Fahrt dann nach Metz weiter.
Am Sonntag, dem 8.9.1940 kam Himmler nach Luxemburg29. Er war in Begleitung von SS-Brigadeführer Erwin Rösener30 (HSSPF Rhein) als er in Mondorf eintraf, wo er vom stellvertretenden Gauleiter Reckmann31 und von Regierungspräsident Siekmeier32 empfangen wurde. Dieser führte ihn durch die Stadt, wobei die Freiwilligenkompanie in der Kaserne auf dem Heilig-Geist-Plateau antreten musste. Himmler gefielen die angetretenen Soldaten so gut, dass er anordnete, eine Anzahl von ihnen für die Leibstandarte-SS „Adolf Hitler“ vorzumerken, was aber in der Folgezeit auf Widerstand innerhalb der Truppe stieß. Nach einem Mittagessen, bei dem er dann Gauleiter Simon im Hotel Brasseur traf, konnte Himmler auf einer Fahrt durch das Land (Diekirch, Vianden, Echternach) Luxemburg bewundern. Um 16.30 flog er von Trier nach München.
Auffallend bei dieser Inspektionsreise ist, dass Himmler kaum Kontakt mit den Chefs der Zivilverwaltung hatte. Alles war von der SS organisiert und nur die jeweiligen höheren SS- und Polizeiführer scheinen mit ihm engeren Kontakt gehabt zu haben, sieht man vom Besuch bei der Leibstandarte in Metz ab. In seinem „Taschenkalender“33 sind nur stichwortartig der Reiseverlauf und die getroffenen Personen verzeichnet. Zusammen mit dem „Reiseprogramm“ lässt sich etwas detaillierter sehen, was Himmler während dieser Reise unternommen und wen er getroffen hat. Man darf aber davon ausgehen, dass er in den drei Westgebieten wohl die gleichen Fragen angesprochen hat (Werbung für die SS und die Polizei, Volkstumsfragen, Abschiebungen, Judenfrage).
Im Rückblick fällt auf, dass weder Himmler noch der Gauleiter, die Existenz der Verwaltungskommission überhaupt zur Kenntnis genommen, geschweige denn mit den Mitgliedern über Maßnahmen gegen die Juden gesprochen haben. Dass die eine oder andere Entscheidung der Verwaltungskommission oder einzelner Beamter letztlich in die gleiche Richtung einer möglichst schnellen Ausreise der Juden aus Luxemburg ging, lässt sich nicht leugnen. Doch das war auch das Ziel, welches das Konsistorium seit Mitte September verfolgte.
Andrerseits scheint das Verhältnis zwischen den Verantwortlichen des Konsistoriums und den Mitgliedern der Verwaltungskommission eher gut gewesen zu sein. Schon am 10. Mai 1940 kam der neue Präsident des Konsistoriums, Rechtsanwalt Alex Bonn, mit Albert Wehrer zusammen und erhielt von der Verwaltungskommission Hilfsgelder und Lebensmittel für die jüdischen Flüchtlinge34. In die gleiche Richtung weisen die Bemühungen Wehrers, den auswanderungswilligen Juden35 in jeder Hinsicht behilflich zu sein. Serebrenik bescheinigte 1963 der Verwaltungskommission „farthest-going understanding for the plight of the Jews“. Irgendwelche als antijüdisch empfundene Maßnahmen der Verwaltungskommission erwähnt er nicht.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verwaltungskommission in der antisemitischen Politik, die ab Anfang August in Luxemburg entwickelt wurde, eigentlich keine Rolle gespielt hat. Diese Politik war dem Gauleiter beziehungsweise Himmler und der SS vorbehalten. Die Existenz der Verwaltungskommission wurde von beiden Akteuren ignoriert. Wenn sie eine Rolle gespielt hat, dann war diese auf die Weiterleitung und Ausführung von deutschen Anfragen und Befehlen beschränkt.
Sicher hätte man von hohen Beamten erwarten können, dass sie sich zumindest zurückhielten oder sogar die Maßnahmen der Besatzer behinderten. Sehr schnell verschwanden aber diejenigen, die die deutsche Politik zu behindern oder verhindern suchten, in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Einer der ersten war Albert Wehrer, der Präsident der Verwaltungskommission.