1918 erschien im Ullstein-Verlag ein Roman mit dem Titel Das hübsche Mädchen von Kayl. Roman aus Luxemburg. Der Autor des Buches, Erich Urban (1876-1951), war in den Jahren 1917 und 1918 als Soldat der deutschen Besatzung in Kayl stationiert. Im wirklichen Leben arbeitete Dr. Erich Urban beim Ullstein-Verlag als Autor von musikalischen, literarischen und kulinarischen Ratgebern sowie als Musikkritiker für die Berliner Morgenpost und die B. Z. am Mittag.
Die Geschichte dreht sich um eine achtköpfige deutsche Soldatengruppe, die für das einwandfreie Funktionieren der Telefonzentrale Kayls, gelegen in der Grand’Rue 1, verantwortlich ist. Im Zentrum des Buches steht die lockere Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten Peter Schornhof und der Luxemburgerin Kätty Schon-Litt. Schornhof, hinter dem der Autor Erich Urban steckt, ist ein etwa vierzigjähriger, gebildeter und musikalischer Mann, verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes. Die 16-jährige Kätty, Tochter des Ehepaares Schon-Litt, das ein Café mit Frisörsalon gegenüber der deutschen Telefonzentrale betreibt, wird als ein außergewöhnliches Wesen geschildert. Schön ist sie eigentlich nicht, aber hübsch und sehr originell mit ihren schwarzen lockigen Haaren, ihren dunklen Augen und ihrer seltsamen rauen tiefen Stimme. In ihrer sphinxhaften Rätselhaftigkeit betört sie alle Männer, inklusive Schornhof. Als hervorragender Klavierspieler ist dieser im Café ihrer Eltern ein gern gesehener Gast, und so verlieben sich beide ineinander. Nachdem es zu einem Kuss gekommen ist, setzt Schornhof, geplagt vom schlechten Gewissen seiner Frau gegenüber, der Geschichte ein Ende, bittet um Urlaub und verabschiedet sich von Kayl.
Erich Urban stellt seinem Roman die Widmung „Meinen Originalen“ voran, mit der er sich an all die Personen und Örtlichkeiten wendet, zu denen er Zeit seines Aufenthaltes in Luxemburg Kontakte pflegte. So findet, neben den Hauptorten Kayl und Esch-Alzette, fast der gesamte Süden des Großherzogtums Erwähnung. Bemerkenswert an Urbans Darstellung sind die vielen konkreten Referenzen auf ortsbezogene Straßen, Einrichtungen, Lokale und Personen. Die einzige, aber bezeichnende Ausnahme betrifft Kätty und ihre Familie, für die Urban ein Pseudonym verwendet. Hinter dem Doppelnamen Schon-Litt verbirgt sich in Wirklichkeit die Familie André Lecuit-Hengen, die in der Grand’rue 4 wohnte und die eine 16-jährige Tochter namens Catherine hatte.
Der deutsche Soldat Peter Schornhof vertritt eine grundsätzlich positive Einstellung zu Luxemburg und seinen Bewohnern. Mit neugierigen Augen und auf humorvolle Weise beobachtet er fast wie ein Ethnologe ihre Eigenarten und bewundert die „Buntheit des luxemburgischen Lebens, die sich zusammensetzt aus der Mischung deutscher, französischer, italienischer und belgischer Elemente […], eine Buntheit, die in ihrer südländischen Lässigkeit grell absticht von norddeutscher Korrektheit und Steifheit“ (S. 56). Besonders die Landschaft um Kayl mit dem Mont Saint-Jean und seinen Sagen haben es ihm angetan, aber auch die malerischen Häuser im lothringisch-luxemburgischen Stil, die „eine fast italienische Heiterkeit und Sinnenfreude“ (S. 37) ausstrahlen. In sozialpsychologischer Hinsicht sind es vor allem die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die dem Deutschen ein ungewohntes Bild liefern, ist doch schon aus den vielen „ortsüblichen“ ehelichen Doppelnamen „ersichtlich, daß Madame Litt mindestens eben soviel zu sagen hat wie der Herr Schon. Wenn nicht mehr. Mit anderen Worten, daß, wie überall in Luxemburg, auch hier die Frau die Hosen anhat“ (S. 30).
In Esch-Alzette verkehrt Schornhof häufig, weil sich dort die Zentrale der Lebensmittelversorgung für die deutsche Armee befindet. Ein „Muss“ ist für ihn der Besuch beim Frisör Harry Rollinger, genannt der „Hory von Esch“, ein Original, für den Frisieren und Rasieren noch eine Kunst ist. Anschließend geht Schornhof ins Café de Munich, geleitet von der königlichen und eleganten Madame Franck-Stoffel. Dort bekommt man noch echten Bohnenkaffee, dort verkehren die deutschen Offiziere, dort liegt, neben deutschen Blättern, auch die Luxemburger Zeitung aus, in der Schornhof „eine sehr geistreiche Rubrik“ (S. 76), den Abreißkalender von Batty Weber hervorhebt.
Während seines Aufenthalts entwickelt Schornhof ein fast zärtliches Verhältnis zu den Luxemburgern, denen er sich zutiefst verbunden fühlt. Man neckt sich liebenswürdig untereinander und bezeichnet sich als „Käsköppen“ und „Stinkpreißen“ (S. 66). Es ist offensichtlich, dass im Verlauf der Erzählung die militärischen und weiteren Fronten zwischen Besetzern und Besetzten überwunden werden und die Transgression eines Tabus stattfindet, nämlich die wechselseitige „Liebe zum Feind“. Die Deutschen bemühen sich sogar um sprachliche Assimilation, denn der Stationsvorsteher behauptet: „Wenn ich noch vier Wochen in Kayl bin, kann ich fließend Luxemburgisch. Schon jetzt verstehe ich jedes Wort“ (S. 118). Zum Beweis liest er aus einem luxemburgischen Theaterstück vor und erntet damit die Bewunderung der Einheimischen: „Das ist Luxemburgisch. Wir können selbst das kaum lesen“ (S. 117).
Erich Urban schildert in seinem Roman ein weitgehend vergnügliches, konfliktfreies und ungetrübtes Zusammenleben zwischen den deutschen Soldaten und der Luxemburger Bevölkerung. Mit einer leisen Verehrung beschreibt er die freien Sitten des Luxemburger Südens und die Offenheit der Menschen. Summa summarum beneidet er die Luxemburger um ihren unabhängigen Geist und ihr friedliches Zusammenleben: „Aus allen diesen kleinen Zügen setzte sich bei ihm das Bild zusammen eines fröhlichen, glücklichen, genießenden Völkchens, das […] auf Selbstbestimmung, freies Meer und Weltherrschaft pfeift“ (S. 57-58).