Abgehoben vom irdischen Treiben, schon auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde, war das Säulenstehen eine Extremsportart der christlichen Askese. Symeon Stilites der Ältere, der 423 in Syrien auf eine Säule gestiegen sein und dort die restlichen 37 Jahre seines Lebens verbracht haben soll, war möglicherweise der erste christliche Einsiedler, der einen Teil seines Lebens auf dem oft mit einem Geländer abgesicherten Kapitell einer Säule verbrachte und sich von Gläubigen über Leitern mit Nahrung versorgen ließ.
Säulensteher und einige Säulensteherinnen, die mit ihrer Selbstkasteiung an die Qualen frühchristlicher Märtyrer anknüpften, gab es während der Spätantike und des frühen Mittelalters vor allem in Syrien, Palästina, Ägypten und Russland. Die römische Westkirche kennt dagegen nur einen einzigen wetterfesten Säulensteher, Wulfilaich oder Walfroy. Er lebte anderthalb Jahrhunderte nach Simeon im heute französischen Carignan, wo er zuerst ein keltisches Heiligtum niederriss und dessen Verehrer dann durch Säulenstehen von der moralischen und physischen Überlegenheit des neuen christlichen Glaubens zu überzeugen versuchte.
Durch das Städtchen Carignan fließt nicht nur die in Differdingen entspringende Chiers, sondern es gehörte unter dem Namen Yvois vorübergehend sogar zum Herzogtum Luxemburg. Grund genug für den Oberwampacher Pfarrer Adam Reiners, den einzigen Styliten der Westkirche zum Luxemburger Landsmann zu erklären. Und so verfasste Reiners 1905 unter dem Titel Der Luxemburger Säulensteher Wulfilaich (584), ein grosser Martinusverehrer ein „patriotisches Theaterstück für Jünglingsvereine (ohne Frauenrollen) vorzüglich an Orten, wo der hl. Martin Patron ist“.
Der 1849 in Clerf geborene Adam Reiners, der Urkunden- und Handschriftenkunde studiert hatte, war neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit in verschiedenen Pfarreien ein fleißiger Autor. Er verfasste Zeit seines Lebens Erbauungsschriften, historische Erzählungen, Reiseberichte und Hunderte von lokalhistorischen Artikeln, unter anderem im Echternacher Anzeiger, dessen Chefredakteur er war, in der Obermosel-Zeitung und vielen anderen Zeitschriften. Sein Theaterstück Der Luxemburger Säulensteher Wulfilaich blieb dagegen unveröffentlicht, das Typoskript schenkte er der Bibliothek des Priesterseminars (Lux 200 1156).
Wobei die Bezeichnung „Theaterstück“ eine Übertreibung ist. Denn Reiners nahm die einzige bekannte Quelle über Wulfilaich, einen Abschnitt im siebten Buch von Gregor von Tours‘ Decem libri historiarum über die Geschichte der Franken, und legte die deutsche Übersetzung in Textbrocken zwei seiner Figuren, dem Säulenheiligen und Bischof Gregor, abwechselnd in den Mund. Der Lokalhistoriker Reiners identifiziert sich gleich mit Gregor und lässt ihn Wulfilaich erzählen: „Als Kulturhistoriker wollte ich mir Bausteine für die Fortsetzung meiner Bücher zeitgenössischer Frankengeschichte sammeln, besonders für die 4 Bücher der unbekannten Martinswunder.“
Wie aus dem Untertitel und den Regieanweisungen hervorgeht, soll das Stück in Wirklichkeit für den heiligen Martin von Tours werben. Der ist zwar ein kirchengeschichtlich bedeutenderer Heiliger, aber er konnte wegen der geografischen Entfernung von Tours beim besten Willen nicht zum Luxemburger erklärt werden. Deshalb versuchte Reiners, nicht das Leben Martins zu dramatisieren, sondern Wulfilaichs, der zwar ein falscher Heiliger war, aber Reiners Jünglingsverein und das Publikum als angeblicher Landsmann stärker interessieren konnte. Die literarische Naturalisierung einer herausragenden Person wie des einzigen Säulenheiligen des Abendlands sollte, lange vor Gabriel Lippmann und Edward Steichen, Balsam auf das nationale Minderwertigkeitsgefühl des Luxemburger Bürgertums streichen, das während Jahrzehnten mittelalterliche Wurzeln erfand, um seinen jungen und schwächlichen Nationalstaat in der Heimaterde zu verankern.
Aber dem Oberwampacher Pfarrer ging es um mehr. Zu seiner Zeit herrschte in der katholischen Kirche ein oft kompromissloser Integralismus vor, eine Ablehnung all dessen, was die Moderne des anbrechenden 20. Jahrhunderts zu verkörpern schien: Materialismus, technischer Fortschritt, Positivismus, Liberalismus, Sozialismus und dergleichen Gottlosigkeit mehr. Dieser verzweifelte Verteidigungskampf gegen die Moderne sollte in dem 1910 von Papst Pius X. eingeführten Antimodernisteneid für Priester gipfeln.
So sakralisiert Reiners eine für das Luxemburger Geistesleben typische Verbindung von nationalem Minderwertigkeitsgefühl und antimodernem Ressentiment. Gegen Ende seines Theaterstücks beansprucht er plötzlich dichterische Freiheit und warnt in Klammern: „Von hier an gehört nicht mehr zum Leben Wulfilaich, sondern ist aus andern Stellen aus Gregors Frankengeschichte gezogen.“
Nun kommt endlich Leben auf die Bühne: Lärmend tritt Modestus auf, ein mit falschen Jakobsmuscheln aus Santiago de Compostela als Pilger verkleideter Betrüger, der, ganz im Geist des modernen Aberglaubens, mit falschen Reliquien handelt und bloß an Süßwein, Braten und Wild interessiert ist. Doch im Happyend legt ihm Bischof Gregor, wie vielleicht Papst Pius X., das Handwerk.
Damit nimmt Reiners ein wenig Luis Buñuel vorweg. Der große spanische Regisseur erzählte 1965 in seinem Film Simón del desierto, wie der langbärtige Säulenheilige Simeon Stilites von der teuflischen Moderne, einer barbusigen Teufelin mit hochtoupierter Frisur der Sechziger, aus der entrückten Höhe seiner Säule in den großstädtischen Sündenpfuhl einer Diskothek gelockt wird.