Der Boulevard Roosevelt ist abgeriegelt, ein Teil des Touristenparkplatzes rund um das Monument du Souvenir ist leergeräumt, eine bunte Werbetafel lädt zum Besuch des Weltkulturerbes Kasematten ein. Soldaten, Polizisten und Gemeindearbeiter stehen gelangweilt in der Sonne herum, niederländische Familien mit Hunden und chinesische Teenager in Shorts warten hinter den Absperrgittern, die Handys im Anschlag. Ein Mann mit wallonischem Akzent schätzt, das alles müsse wohl etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun haben.
Basken- oder Schirmmützen auf dem Kopf, halten sich an beiden Seiten des Denkmals greise Vertreter von Veteranenverbänden mit ihren Fahnen aufrecht, andere stützen sich ordenbehangen auf ihre Gehstöcke. Hinter den roten Absperrbändern trödeln die Notabeln ein, grüßen sich gut gelaunt, blaue, schwarze und rote Abgeordnete, der Präsident des Staatsrats, der Generalstaatsanwalt, der Landwirtschaftsminister, der Arbeitsminister, ein Ehrenstaatsminister, der Premierminister...
Eine Stadtschöffin mit Schärpe gibt fleißig links und rechts Küsschen. Ein gewissenhafter Beamter sucht Farbtupfer auf dem Boden vor der Gëlle Fra und legt Namenskärtchen darauf, ein Offizier kontrolliert streng die Rangfolge. Eine Staatssekretärin kommt in der Dienstlimousine mit Polizeieskorte angefahren, später folgen der Justizminister, die Familienministerin, der Kammerpräsident, Abgesandte der Großregion. Eilfertige Beamte am Straßenrand reißen die Türen der Limousinen auf.
An einem Dreifuß neben dem Denkmal hängt ein Blumenkranz. Die ersten Schaulustigen werden ungeduldig, metallisch klimpert das Glockenspiel der Kathedrale. Einige Soldaten der Militärkapelle marschieren festen Schritts mit Trompeten, Trommeln und einem milchweißen Sousafon auf.
Endlich kommt mit Motorradeskorte, Leibwächtern und Sirene die schwarze Limousine Nummer drei. Erbgroßherzog Guillaume steigt freundlich lächelnd aus und lässt sich zum Denkmal führen. Eigentlich sollte Großherzog Henri an der Gedenkfeier teilnehmen, doch wenige Tage zuvor hatte er abgesagt. Wessen hätte der Großherzog auch gedenken sollen?
Seiner Großtante, Großherzogin Marie-Adelheid, einer Nassauerin, die einen Monat nach dem deutschen Überfall mit einer von Staatsminister Paul Eyschen verfassten Ansprache den deutschen Kaiser im Palais zum Diner willkommen hieß, nachdem deutsche Truppen gerade in den belgischen Provinzen Luxemburg und Namur Kriegsverbrechen an Tausenden von Zivilisten begangen hatten? Die noch im Februar 1918 als Familienoberhaupt in die Verlobung ihrer Schwester Prinzessin Antonia mit dem bayrischen Kronprinzen Rupprecht einwilligte, dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe „Kronprinz Rupprecht“ an der Westfront?
Der Kammerpräsident, die Regierungsmitglieder und die Vertreter der Großregion stellen sich hinter dem Erbgroßherzog auf ihre Namenskärtchen. Die Veteranen halten ihre Fahnen hoch. Soldaten pressen mit versteinerter Miene ihre Maschinenpistolen an die Brust.
Dann wartet der Erbgroßherzog stumm, dass es 14.58 Uhr wird. Mit einem dumpfen, schwirrenden Ton beginnen die Sirenen über den Parkplatz und das Petrusstal mehr zu summen als zu heulen. Gleich setzt das schrille Glockenspiel der Kathedrale wieder ein.
Zwei Polizeibeamte mit Glacéhandschuhen tragen den Blumenkranz von seinem Gestell zur Steinplatte am Fuß des Denkmals und salutieren. Der Erbgroßherzog folgt mit gebührendem Abstand, kniet kurz nieder, um am leeren Spruchband zu nesteln. Er tritt einige Schritte zurück, verneigt sich. Der Kammerpräsident schwellt schweigend die Brust. Worüber, bleibt ein Rätsel.
Denn als Sozialist müsste er wissen, wie dumm sich all die Zeitungskommentare der vergangenen Tage stellten, die den Ersten Weltkrieg mit dem Attentat von Sarajevo 1914 beginnen ließen. Schließlich hatte die Sozialistische Internationale schon 1912 einen dringlichen Friedenskongress in Basel abgehalten. Auch drei Luxemburger Delegierte stimmten damals für das Manifest, das aufrief, mit den „am wirksamsten erscheinenden Mittel[n] den Ausbruch des Kriegs zu verhindern“ oder ihn zur revolutionären „Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft“ zu nutzen. Doch kaum zu Hause, war die Mehrheit der Sozialisten schnell zu blutrünstigen Patrioten geworden.
Während der Erbgroßherzog sich stumm sammelt, vielleicht an die neun Millionen Toten, die Giftgasschwaden über den Schützengräben, die Krüppel und Gueules cassées denkt, spielt die Militärmusik mit Trommelwirbel und Trompetenstößen auf, steigert sich zur Nationalhymne. Unter den Schaulustigen singt einer die Heemecht mit. Die Notabeln bleiben stumm. Keiner kann zugeben, dass Luxemburg zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs gehörte.
Der Erbgroßherzog grüßt die Veteranenverbände, beugt sich huldvoll über einen Mann im Rollstuhl. Hinter ihm schreitet der Premierminister das Spalier ab. Selbst er bleibt stumm.
Denn sein liberaler Vorgänger von 1914 hatte sich zwei Wochen nach dem deutschen Überfall jeden Widerstand der auf die Preisen schimpfenden Bevölkerung verbeten und in allen Gemeinden anschlagen lassen: „Wegen der Neutralität des Landes und der korrekten Haltung, welche Regierung und Land gewahrt, ist in mehreren offiziellen deutschen Schriftstücken Luxemburg als befreundetes Land bezeichnet worden.“ Das Luxemburger Wort rief am 19. August auf, „die fremden Soldaten, einerlei welcher Nation, die unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, anständig und korrekt [zu] behandeln“.
Ziel des Ersten Weltkriegs war es, die Länder, Märkte, Rohstoffe und Kolonien der Welt neu aufzuteilen. Aber mit 250 Mann konnte die Luxemburger Armee nicht mitmischen. Deshalb blieb, wie so oft, nur eine Trittbrettfahrt bei einem größeren Nachbarn übrig. Vielleicht fielen ja bei der Aufteilung der Beute einige Krümel im Deutschen Zollverein ab, dem man mit Schmelzen, Bergwerken, Eisenbahnen und Lederfabriken seit über 70 Jahren angehörte. Man protestiere zwar gegen den deutschen Einmarsch als Verletzung der nationalen Neutralität, aber man empfand es nicht als eine Besatzung durch eine feindliche Armee, sondern durch eine befreundete. Wie ein rücksichtsloser Verwandter, der sich für einige Zeit uneingeladen bei der Familie einnistet. Man glaubte nur zu gerne der deutschen Propaganda, dass der Krieg nach wenigen Monaten vorüber und vielleicht sogar gewonnen sei. So lange hieß es, als Aufmarschgebiet gegen die Nachbarstaaten stillzuhalten.
Schon schiebt sich die schwarze Limousine sachte vor. Über dem Einsteigen winkt der Erbgroßherzog ins Publikum, einige klatschen, dann ist er verschwunden. Die Minister begrüßen lachend die Abgeordneten, die Limousine des Premierministers fährt vor, die Militärmusiker sitzen schon in ihrem Minibus. Nach einer Viertelstunde ist der Stummfilm aus fernen Zeiten vorüber, dann ist es wieder für hundert Jahre gut.
Die goldene Siegesgöttin hoch oben auf dem Monument du Souvenir ist Souvenirkitsch. Das wirkliche Mahnmal des Ersten Weltkriegs ist der Mann am Fuß der Gëlle Fra. Er sitzt neben einer Leiche, einen Arm müde auf die Bahre gelehnt. Er ist nicht erschüttert, nicht niedergeschlagen, er trauert nicht einmal. Er wartet bloß stumm und ratlos. Eine treffendere Allegorie für jene, die 1914 auf das falsche Pferd gesetzt hatten, lässt sich bis heute kaum finden.