Die Umfrage, die Bee Secure gemeinsam mit der Uni Luxemburg durchführt, ist eine der ersten ausführlichen Onlinebefragungen über das Internetverhalten Luxemburger Kinder und Jugendlicher bis 18 Jahre. Sie fragt unter anderem danach, wie viel Zeit sie am Computer verbringen, aber auch welche sozialen Netzwerke sie besuchen und welche Seiten sie „cool“ finden. Vielleicht befeuert sie ja auch ein Thema, das in Luxemburg derzeit vor allem von Fachleuten debattiert wird – und mit dem doch fast jeder Jugendliche über zwölf Jahre konfrontiert ist: die Pornografie.
„Wir gehen davon aus, dass gut 90 Prozent der Schüler einer 7e schon einmal nach Sexseiten gesurft hat – oder sonstwie damit in Kontakt gekommen ist“, sagt Nadine Schirtz. „Leider handelt es sich dabei nicht unbedingt um altersgerechte Seiten.“ Dass die Jugend von heute neben Musik und Spielen auch die Welt der Pornografie im Netz entdeckt, ist noch ein relativ junges Phänomen, das aber, so schätzen Jugendforscher, rasant zunimmt. War den Medien der Pornokonsum der Jugend früher kaum eine Zeile wert, mehren sich die Schreckensmeldungen über die „Generation Porno“. Der Spiegel setzte sich mit jugendlichen Pornokonsumenten unter dem provokant-frechen Titel „Jugend forscht“ auseinander. Hierzulande dagegen herrscht betretenes Schweigen. „In Luxemburg ist Sexualität generell ein Tabu“, findet Catherine Chéry, Leiterin des Beratungszentrums Planning Familial.
Was manche Eltern an Aufklärung versäumen, versuchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Planning Familial, ebenso wie die von Bee Secure, in den Schulen nachzuholen. Weil aber außerdem noch Internetsicherheit, Viren und Malware, soziale Netzwerke, Datenschutz sowie Phishing im Zwei-Stunden-Programm untergebracht werden müssen, bleibt nicht viel Zeit für Sex Talk. „Wir versuchen schwerpunktmäßig in Klassen zu gehen, die uns anfragen, und wir bilden verstärkt Multiplikatoren für die Sexualerziehung aus“, erklärt Chéry. „Dort ist der Pornokonsum von Jugendlichen auf jeden Fall Thema.“
Dass junge Männer als Folge der virtuellen Sexberieselung zunehmend „Hardcore-Sex im realen Leben suchen“ und „harter Porno die Sexualerziehung ablöst, wie Cindy Gallop, eine britische Werbeberaterin, die nach eigenen Aussagen gerne und oft mit jüngeren Männern schläft, behauptet, mag übertrieben klingen, aber auch die Sexologin Anne-Marie Antoine des Planning Familial warnt: „Immer mehr Jugendliche beziehen ihr Wissen aus dem Internet. Auch über Sexualität. Nur hat der Sex, der dort gezeigt wird, mit der Realität fast nichts zu tun. Je jünger die Kinder sind, desto höher ist die Gefahr, dass solche Bilder ihr Verständnis von Sexualität nachhaltig prägen.“
Wie – darüber streiten und forschen Wissenschaftler weltweit. Das Spektrum reicht von stark alarmiert, wie die kürzlich erschienene Studie über jugendlichen Pornokonsum der britischen Kinderrechtsbeauftragten, die vor dem Risiko der „sexuellen Verwahrlosung“ von Kindern und Jugendlichen durch Internetpornos warnt und dringenden Handlungsbedarf sieht, bis hin zu vorsichtig abwartend wie der deutsche Sexualforscher Hartmut Bosinski, der für einen entspannten Umgang mit Pornografie wirbt. Für eine gewisse Gelassenheit spricht, dass sich in Europa das Durchschnittsalter beim ersten Geschlechtsverkehr bei der Mehrheit seit den 1980-ern nicht wesentlich geändert hat, es liegt zwischen 15 und 17 Jahren. Aber: Es gibt Studien, denen zufolge der Konsum exzessiver gewalttätiger Pornos zu erhöhter Gewaltbereitschaft und Aggressivität besonders bei männlichen Jugendlichen beitrage. Der britische Kinderrechtsbericht schildert Schicksale von Jugendlichen, die andere Kinder vergewaltigten und danach aussagten, für sie sei das „wie im Pornovideo“ gewesen. Das sind extreme Einzelfälle – die aber aufhorchen lassen.
Die Forschung tut sich schwer mit eindeutigen Erkenntnissen, was das Verhältnis von Hardcore-Porno und Gewaltbereitschaft angeht – nicht zuletzt, weil Studien über einen längeren Zeitraum ethisch bedenklich sind und schon aus kinderrechtlichen Gründen nur unter strengen Auflagen, wenn überhaupt, durchgeführt werden können. Es gibt vereinzelte Studien, die nahelegen, dass Gewaltpornos bei Kindern, die aus problematischen Familien kommen, das Risiko verstärken, selbst zum Gewalttäter zu werden.
In Luxemburg und in den Nachbarländern gibt es keine Studien, die den Konsum oder die Gefahren von Erwachsenen-Pornografie für Kinder und Jugendliche genauer untersucht hätten. Doch Erzieher und Psychologen warnen auch hierzulande vor negativen Folgen: „Früher gab es gewisse Hemmschwellen. Da musste man für Pornos, vor allem der härteren Sorte, in die Videothek gehen“, sagt Nadine Schirtz. Heute haben Jugendliche dank Smartphone und Internet leichten Zugang zu Sex härtester Gangart. Einmal „Sex“ eingetippt, schon öffnet sich das virtuelle Bordell. Einige Klicks weiter und der Weg zu Analsex, Gruppensex und Rape-Porn ist frei. Die Altersbarrieren sind lächerlich. Auch Internetfilter bieten nur bedingt Schutz, denn die meisten Jugendlichen sind ihren Eltern in Sachen IT-Kompetenz weit voraus und wissen, wie solche Sperren zu umgehen sind.
Was aber nicht bedeutet, dass sie dem, was sie sehen, stets gewachsen sind: Erzieher und Psychologen berichten von verstörten Teenagern, die zwar Schlagwörter wie BDSM, Bestiality, Milf-Sex und Revenge-Porn kennen, aber kaum wissen, warum Mädchen monatliche Regelblutungen haben und wie ein Kondom überziehen. „Bei uns kommen Kinder in die Behandlung, die mit sieben oder acht die ersten Sexfilme gesehen haben und entsprechend traumatisiert sind“, berichtet Antoine. Einer Studie aus den Niederlanden zufolge kann früher Pornokonsum weitreichende Folgen für das Selbstverständnis und die Einstellung gegenüber Sexualität und künftigen (Sex-)Partnern haben: Junge Pornokonsumenten haben tendenziell früher und häufiger riskanten, ungeschützten Sex. Mädchen scheinen es noch schwieriger zu finden, sich von riskanten und ungewollten Sexualpraktiken abzugrenzen, aus Angst als prüde oder uncool zu gelten. Gleichzeitig zeigen sich viele Jugendliche verunsichert. „Der Sex, der in Pornos stattfindet, entspricht nicht der Realität, das sind Schauspieler. Das versuchen wir den Jugendlichen deutlich zu machen“, erklärt Georges Knell, der beim Kanner-Jugenddienst die Bee-Secure-Helpline betreut.
Mainstream-Porno vermittelt ein Geschlechterbild, das oft problematisch ist – für Jungen wie für Mädchen: Männer, die allzeit bereit sind und stundenlang vögeln. Modellierte Körper und Penetration statt zärtliche Umarmungen und Küsse, Frauen in erniedrigenden Posen. Kaum ein Porno, der nicht mit Samenerguss endet, womöglich in das Gesicht der Darstellerin. „Mir machen die jungen Mädchen Sorge, deren Freunde nun dasselbe von ihnen verlangen“, fasst Cindy Gallup den neuen Leistungsdruck in Worte. Ihre Internet-Plattform Makelovenorporn.com will Mythen der Pornowelt geraderücken, ohne grundsätzlich gegen Pornos zu sein: etwa dass alle Frauen rasiert sind, Analsex wollen und Blowjobs bis zum Würgereiz toll finden. Die australische Pornogegnerin Gail Dines ist drastischer: „Eine ganze Generation von Jungen wächst mit brutalem, gewalttätigem Porno auf (...), das wird ihre Sexualität, ihr Verhalten und ihre Einstellung gegenüber Frauen nachhaltig prägen“. Dass Pornografie nicht selten mit Ausbeutung, Prostitution und Menschenhandel einhergeht, thematisiert Gallup, anders als Dines, nicht.
Mit dem Internet und der Sexualisierung kommen neue Phänome wie Cyberbullying oder das so genannte Sexting hinzu, wenn erotische Bilder per SMS und Internet verschickt werden. „Sicher gibt es Sexting auch bei uns“, bestätigt Georges Knell vom Kanner-Jugendtelefon. Im ersten Halbjahr bekam das Beratungstelefon bereits zwölf Anfragen zu Sexting. „Das ist deutlich mehr als in den Vorjahren.“ Zum Teil sind die Anrufer Erzieher und Lehrer, die Rat und Tipps im Umgang mit Sexting suchen, aber auch Betroffene. „Viele Kinder wissen nicht, dass das Verschicken solcher Sexbilder strafbar ist. Die finden das cool“, so Nadine Schirtz von Bee Secure. Wer in Luxemburg Nacktbilder von Minderjährigen muss mit einer Anzeige wegen Besitz und Vertrieb von Kinderpornografie rechnen.
Bee-Secure-Mitarbeiter begegnen bei ihren Schulungen immer wieder Mädchen, die von Jungs um freizügige Bilder gebeten wurden, oder Zwölfjährigen, die „leichtfertig und naiv relativ freizügige Fotos von sich im Internet veröffentlichen“ und sich „über Likes und Komplimente freuen“, wie es in einem Bee-Secure-Erfahrungsbericht von 2012 heißt. Demnächst soll eine Plattform online gehen, die Kinder und Jugendliche noch umfassender über die Risiken von Sexting informieren soll. Was in ersten Moment als Liebesbeweis oder Kick gemeint ist, der Sexfilm mit dem Freund, eine Masturbationsszene auf dem Schulklo, kann schnell zum Albtraum werden, wenn andere die Bilder in die Hand bekommen: Kompromittierende Fotos und Filme sind übers Smartphone mit einem Klick an die Klassenkameraden verschickt und was einmal im Netz ist, lässt sich schwer wieder einfangen. Deshalb gilt: Sexting so früh wie möglich melden. Leider macht der Gesetzgeber betroffenen Jugendlichen den Gang zur Polizei nicht leicht: Anzeigen können Jugendliche nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten, für viele beim Tabuthema Sex eine zusätzliche Hürde, gerade wenn sie sich mit ihren Eltern nicht gut verstehen.
Konservative Politiker in Großbritannien fordern Internetsperren für Nutzer, um die Verbreitung und den Zugang von Kindern zu Porno im Internet zu verhindern. Internetprovider müssten dann Techniken einsetzen, mit denen pornografische Angebote aus dem Netz gefiltert werden können. Internetnutzer müssten die Filter aktiv ausschalten, um an das gewünschte Bild- und Videomaterial zu kommen. Auch Betreiber von öffentlichen W-Lan-Hotspots wären verpflichtet, die Pornofilter eingeschaltet zu lassen. Dann wäre auch Luxemburg betroffen: Von hier aus etliche Pornoportale betrieben.
In Luxemburg wären die Mitarbeiter des Planning Familial schon froh, wenn sie mehr Ressourcen hätten, um aufklärerisch tätig zu werden. Anderthalb Posten für die Sexualerziehung von Zehntausenden Schülern ist nicht viel. Selbst wenn die Ressourcen aufgestockt würden, wie es die blau-rot-grüne Regierung versprochen hat, ist das Problem nicht aus der Welt. Sexologin Anne-Marie Antoine appelliert an die Erwachsenen: „Gesetze allein helfen nicht. Repression auch nicht. Es obliegt den Erwachsenen, altersgerecht aufzuklären und eine verfrühte Konfrontation mit Pornos zu unterbinden.“ Aber nicht nur Eltern seien in der Pflicht, die oftmals gar nicht wüssten, welche Seiten ihre Kinder auf dem Smartphone aufrufen, was sie selbst verschicken oder zugeschickt bekommen: „Die traditionelle Elternkontrolle funktioniert nicht mehr. Die meisten Kinder wissen mehr übers Internet als ihre Eltern“, so Antoine. Kollegin Catherine Chéry fordert mehr Engagement. „Welche Bilder von Sexualität wir unseren Kindern vermitteln wollen, geht alle an: Eltern, Lehrer, Politiker, die ganze Gesellschaft“, betont sie.