„Wir nehmen jeden, der die erforderlichen Studien hat.“ Der Satz, den Robi Brachmond mit Nachdruck spricht, klingt wie eine Jobofferte und ist es auch: Brachmond ist Beamter in der Abteilung Grundschule im Unterrichtsministerium und weiß: Der Staat sucht dringend neue Lehrer. Obwohl ihre Zahl stetig steigt, und im Grundschulbereich bei 3 800 liegt, dauert der Personalmangel an. 240 neue Posten hat der Regierungsrat kürzlich bewilligt, nachdem es 2010 250 Plätze waren. Damit bestätigt sich der Trend der vergangenen Jahre: Für Lehrer bleiben die Berufsaussichten gut.
Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) hat wiederholt versprochen, vorrangig diplomierte Lehrer einstellen zu wollen. Auf die rund 1 200 Hilfslehrer wird sie dennoch nicht verzichten können, will sie den reibungslosen Unterrichtsablauf in den Grundschulen gewährleisten. Noch immer fallen Stunden aus, weil im Krankheitsfall nicht schnell genug Ersatz gefunden wird. Ein knappes Viertel, rund 23 Prozent des Unterrichtspersonals, sind Chargés de cours. Sie sind auch ohne Staatsexamen eine feste Größe im Schulbetrieb.
Die Schule als Jobmaschine, dabei hatten die Gewerkschaften, allen voran der SEW, als mit der Reform der Grundschule die Personalverwaltung zentralisiert wurde, das Schreckensszenario an die Wand gemalt, wegen der Kontingentierung würden Lehrerstellen gestrichen. Der Personalschlüssel, der für jede Gemeinde nach dem gleichen Prinzip berechnet wird, geht von einer Klassengröße von 16 Schülern aus und berücksichtigt die soziale Zusammensetzung einer Gemeinde.
Das war 2009, als die Grundschulreform soeben verabschiedet war. Inzwischen klingt der Warnruf nicht ganz so schrill. Aber dass der Staat mit der Reform 200 Posten binnen zehn Jahren einsparen wolle, daran halten die Gewerkschaften fest. 4 000 Stunden seien bereits eingespart, über 5 400 würde bis 2020 aufgrund der neuen Formel entfallen, hatte der SEW im Sommer 2011 ausgerechnet. Ein Unterricht von Qualität sei so nicht mehr möglich.
„Das ist falsch“, ärgert sich Robi Brachmond. „In Wirklichkeit haben wir Stunden ausgebaut.“ Die diametral entgegen gesetzten Analysen erklären sich durch unterschiedliche Rechenweisen: Während die Gewerkschaften klassische Unterrichtsstunden zählen, schließt das Ministerium die Arbeitsstunden der Nicht-Lehrer ein. Fakt ist, dass der Staat neue Stellen geschaffen hat, wenngleich nicht immer in den Bereichen, die Lehrergewerkschaften als prioritär sehen. 178 neue Posten seien entstanden, rechnete Premier Jean-Claude Juncker (CSV) in seiner Erklärung zur Lage der Nation am Dienstag vor. Dabei handelt es sich unter anderem um Erzieher und Sozialpädagogen, die bedürftigen Kindern und ihren Eltern zur Seite stehen sollen. Auch soll ab der nächsten Rentrée eine Schule für verhaltensauffällige Kinder funktionieren. Der Premier hatte diese bereits im vergangenen Jahr angekündigt.
Doch trotz des Betreuungsausbaus verstummt die Kritik nicht. „Das System funktioniert nicht so gut, so wie es angesichts der Ressourcen eigentlich müsste“, so ein Inspektor, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Eine halbe Milliarde Euro gibt das Ministerium allein für das Personal in der Grundschule aus. Mit der Reform entstand zudem ein neues Profil: der Instituteur-ressources (IR), der auf Anfrage Schulen bei der Erstellung von Entwicklungsplänen, Teamarbeit und Unterrichtsgestaltung berät. So positiv bewertet das Ministerium die Hilfe unter Kollegen, dass sie die Zahl der IR binnen kurzer Zeit auf 24 ausgebaut hat.
Doch trotz Schulentwicklungspläne, Kompetenzansatz, Teamarbeit, mehr Mitspracherechten, einer neuen Bewertung steht in den Sternen, inwieweit die Schulen dadurch besser werden: Abgesehen davon, dass drei Jahre nach der Gesetzesreform sehr früh ist für ein solides Fazit – Experten sind sich einig, dass messbare Ergebnisse erst in fünf bis zehn Jahren nach einer Reform zu erwarten sind –, Bildungsforscher betonen überdies, eine Klasse zu wiederholen, habe langfristig keinen positiven Effekt auf die Leistungen eines Schülers. Das Grundschulgesetz erlaubt das Verlängern eines Zyklus von zwei auf drei Jahre für schwache Schüler nur im Ausnahmefall. Trotzdem hat sich die Zahl der Klassenwiederholer binnen zwei Jahren verdoppelt. Es scheint, als sorge eine unsichtbare Hand dafür, dass allen Strukturreformen zum Trotz der alte selektive Geist weiterwirkt.
Wohl deshalb mehren sich Stimmen, die das von Gewerkschaften betonte Ressourcenproblem skeptisch sehen: „Wir lösen das Problem nicht, in dem wir ständig neue Ressourcen ins System pumpen. Wir müssen vor allem die Heterogenität in den Klassen in den Griff kriegen“, meint Robi Brachmond. Eine Analyse, die auch der Bildungsforscher Romain Martin von der Uni Luxemburg teilt.
Dass die Vielfalt der Schülerschaft nicht abnehmen wird, ist abzusehen: Knapp 42 Prozent der Grundschüler haben keinen luxemburgischen Pass, ein Großteil von ihnen spricht zuhause kein Luxemburgisch. Das aber stellt die Lehrer, die Schulen, die Politik vor neue Herausforderungen. Wie eine Klasse unterrichten, in dem ein Viertel oder mehr kein Luxemburgisch spricht? Wie muss ein Unterricht, eine Schule aussehen, die jedem Schüler, trotz der Vielfalt, die jeweils besten Entfaltungsmöglichkeiten bietet? Was bedeutet das politische Bekenntnis, Schüler unbedingt auf Deutsch alphabetisieren zu wollen für deren Bildungs- und Jobchancen? Und was für ein Rüstzeug braucht ein Lehrer, um diese Herausforderung zu meistern, ohne sich dabei aufzureiben?
All das diskutierten vor kurzem Abgeordnete der Schulkommission und hatten dafür schon im Sommer 2011 Experten aus Forschung und Praxis eingeladen. Ihr Fazit: An den Grundsatz des dreisprachigen Schulsystems mochte keiner wirklich rühren. Ein Inspektor erinnerte an die gesetzliche Möglichkeit, Muttersprachler im Sprachenunterricht einzusetzen. Passiert ist das bis heute nicht. Vielmehr soll eine verbesserte Ausbildung die (dreisprachigen) Lehrer von morgen vorbereiten, mit der Vielfalt umzugehen. Das Zauberwort lautet Differenzierung, was leichter gesagt ist als getan. Denn viele Lehrer haben eben das nicht gelernt. Die Abteilung Weiterbildung im Unterrichtsministerium hat ihre Angebote im Bereich Methoden in den vergangenen sechs Jahren massiv verstärkt, die Einschreibungen haben sich verdoppelt. Wie viel von den Kursinhalten im Schulalltag ankommt, weiß jedoch niemand.
Wie schwer das Umsteuern und Umdenken drei Jahre nach der Reform fällt, beweist die Debatte um die neuen Zeugnisse: Nachdem im Sommer ein Kompromiss zwischen Regierung und Gewerkschaften um die Benotung entlang von Kompetenzen gefunden worden war, ging der Proteststurm im Rahmen der Kritik an der geplanten Sekundarschulreform von Neuem los. Zu kompliziert und schwer verständlich seien die Bögen, so die Lehrer, von denen sich viele in die Reihen der Reformskeptiker einfügten. Dass die Skalen mit den Kompetenzsockeln nicht ganz leicht zu handhaben waren, räumten selbst jene ein, die seit Jahren damit arbeiten. So verpönt, wie die Gewerkschaften glauben machen wollen, sind die Bilans aber nicht. Einer aktuellen Umfrage des Ministeriums sind Eltern der neuen Bewertung gegenüber aufgeschlossener. Die Mehrheit bejaht, dass die kompetenzbasierten Zeugnisse die Fortschritte ihres Kindes besser abbilden, wobei die Zustimmung in den niedrigen Zyklen größer ist, dies unabhängig von der Sprache, die zuhause gesprochen wird. Ab dem dritten Zyklus, je näher die Sekundarschule rückt, wächst jedoch die Unsicherheit gegenüber dem neuen Instrument. Die Lehrer dagegen stehen den Bilans nach wie vor mit gemischten Gefühlen gegenüber. Allerdings fordert nur eine Minderheit, zum 60-Punktesystem zurückzukehren. Die Studie dürfte eine wichtige Rolle spielen, wenn im Dezember die erste Zwischenbilanz der Reform erfolgen soll. Die Uni Luxemburg, unter Leitung von Professor Daniel Tröhler, wurde vom Ministerium beauftragt, Umfragen über Vorteile und Nachteile der Reform durchzuführen. Interessant wäre, zu wissen, wie viele Schulen beispielsweise ihre Fördermaßnahmen ausgebaut haben. Denn das Ministerium hat die Appui-Klassen wegen mangelnder Effizienz abgeschafft, von Alternativen ist aber kaum die Rede. Warum nicht, ähnlich wie in Bremen wissenschaftlich begleitete Lernsommer anbieten, also Ferienlager mit Schulprogramm, in denen Kinder mit Migrationshintergrund ihre Lernschwächen aufbessern und gleichzeitig in der Gruppe Sozialverhalten – und Luxemburgisch – trainieren könnten? Die Ergebnisse in Bremen waren trotz der kurzen Zeit viel versprechend. So konnten die Teilnehmer danach besser Deutsch, in der Grammatik und beim Lesen waren die Fortschritte besonders deutlich.
In Luxemburg scheint es noch an zündenden Ideen zu fehlen, wie den sprachbedingten Lernschwächen wirksam beizukommen ist. Dabei müssten solche Aktivitäten in Zusammenarbeit mit den Maisons relais doch machbar sein. Immerhin: Das Ministerium will im Juni ein Projekt starten, bei dem Lehrer gegenseitig ihren Unterricht besuchen und so von ihren Kollegen lernen.
Vielmehr deutet vieles nicht auf Innovation, sondern auf Rückschritt hin. Spätestens im Dezember dürfte die Grundsatzkritik am Kompetenzansatz erneut aufflammen – weniger durch die politische Opposi-tion, die an diesem Punkt nicht mehr rüttelt, sondern durch die erstarkten Gewerkschaften. Inwiefern ihre Position den Ausgang der Reformdebatte bestimmen wird, hängt wesentlich davon ab, inwiefern es der Politik gelingt, weitere Stimmen, die der Eltern und der Zivilgesellschaft, einzubinden.
Dann müsste auch ein anderes Thema auf die Tagesordnung: Das Regierungsprogramm, in dem die Zwischenbilanz festgehalten ist, sieht vor, vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Grundschulreform, die Einführung von Schuldirektoren erneut zu prüfen. Etwas, das den Lehrergewerkschaften wenig gefallen dürfte, allen voran dem SEW, der diese ablehnt und sich für landesweite Comités de cogestion stark macht. Spätestens in acht, zehn Jahren dürfte sich das Personalproblem erneut zuspitzen: Dann nämlich, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der überwiegend weiblichen Grundschullehrer sich in den verdienten Ruhestand verabschieden.