Dass die kleine Luxemburger Gesellschaft nicht die einträchtige und gottesfürchtige Volksfamilie ist, als die sie zu gegebenen Anlässen von konservativen Politikern und ihnen ergebenen Publikationen dargestellt wird, wurde in den vergangenen Wochen wieder deutlich: Das Ergebnis der Volksbefragung im Juni wurde, oft nicht ohne Schadenfreude, als Rache des unschuldigen Volks an denen da oben, einer volksfremden „Elite“, dargestellt. Zum Trost für die TVA-Erhöhung versprach die Regierung denen in der gesellschaftlichen Mitte eine Steuerreform zur Beseitigung des Mittelstandsbuckels. Und Besserverdienende, Bildungsferne und sozial Benachteiligte, wie die modischen Hüllwörter heißen, sind sich in diesen Tagen für einmal einig, wieder denen ganz unten, den Obdachlosen und Bettlern, den Garaus zu machen.
Wer sich derzeit ins Staatsarchiv am Heiliggeist-Plateau begibt, kann etwas erfahren über die Archäologie dieser Verhältnisse. Durch den verbunkerten Gewölbegang aus der Zeit der alten Kaserne zieht sich der Lebensweg der „besseren Familien“ im 19. Jahrhundert, jenes Bürgertums, das an der Wiege des Nationalstaats stand, mit der industriellen Revolution groß wurde und dessen Namen in der Politik, Verwaltung und Wirtschaft als Zeichen von Macht und Vermögen nachklingen.
Mit der von Nationalarchiv und Literaturzentrum organisierten Ausstellung liefert Josiane Weber eine Ergänzung und ein Resümee zu ihrer vor zwei Jahren als opulentes Album veröffentlichten Dissertation Familien der Oberschicht in Luxemburg. Elitenbildung und Lebenswelten 1850-1900 (d’Land, 29.11.2013). Die kleine Ausstellung folgt akribisch dem Aufbau des Buchs und zeigt noch einmal, wie die Industriellen, Kaufleute und Großgrundbesitzer durch die Erziehung ihrer Kinder, durch strategische Eheschließungen und einen gepflegten Lebenswandel ihr Vermögen und ihre Macht von Generation zu Generation zu wahren und zu mehren verstanden. „[H]auptsächlich die Familien Pescatore, Metz, Collart, Boch, Servais und Godchaux, die als mächtige Wirtschaftsdynastien über mehrere Generationen hinweg mit ihren Söhnen, Enkeln, Neffen, Schwiegersöhnen, Ehefrauen und Töchtern die ökonomische Entwicklung auf entscheidende Art und Weise bestimmten“, wie Josiane Weber in ihrem Buch schreibt (S. 320).
Zur Elite werden aber auch die führenden Politiker und hohen Beamten gezählt. Die Minister der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammten vorwiegend „aus adeligen und großbürgerlichen Notabelnfamilien“, 70 Prozent waren zuvor hohe Staatsbeamte, heißt es auf einer Texttafel. Auch die leitenden Verwaltungsposten bleiben der Oberschicht vorbehalten, schon weil sich Söhne aus anderen Familien die Kosten der Studien und Referendarzeit nicht leisten konnten.
Als „Basis der Elitebildung“ wird die Erziehung der Kinder dargestellt, in die viel Zeit, Geld, Kindermädchen und Musiklehrer investiert wurden. Eine Reihe Schulbänke, Schullektüre, Zeugnisse und Klassenfotos illustrieren diesen zentralen Teil der Ausstellung.
Von Kleinem an sollte der Nachwuchs die Kenntnisse, die Autorität und die Manieren lernen, die zur Weiterführung der Familientradition nötig waren. Dies galt nicht nur für die Söhne, sondern auch für die Töchter, die in höheren Töchterschulen wie der Sainte-Sophie und anschließend einem ausländischen Pensionat darauf vorbereitet wurden, ihre Rolle in der Familie und notfalls auch im Familienunternehmen zu spielen. Die Söhne besuchten dagegen das Kolléisch und ausländische Universitäten.
Ebenso entscheidend war die Heiratspolitik im Verein mit dem von der Französischen Revolution eingeführten Erbrecht. In den besseren Familien wurde öfters Kusinen und Vettern geheiratet, um sich vor unliebsamen Überraschungen zu schützen und das Vermögen in der Familie zu behalten. Die engen Verhältnisse führten auch dazu, dass der Ehepartner oft aus dem Ausland stammte. Vor allem aber wurde standesgemäß geheiratet, Mesalliancen mit Angehörigen niederer Klassen wurden als Bedrohung der sozialen Pyramide rigoros ausgegrenzt.
Ein mit Tellern und einer Suppenschüssel von Villeroy et Boch für die Herrschaften gedeckter Tisch, ein kleiner Schreibtisch unter dem Patriarchengemälde von Emmanuel Servais sollen etwas Stimmung für die Wohnverhältnissen der besseren Familien wiedergeben, die in Stadtvillen oder Herrschaftshäusern nahe ihrer Fabriken lebten und sich von Dienstboten bedienen ließen.
Ein Klavier, Jagdausrüstung, Einladungen, feine Stiefeletten und Fotos fremder Länder dokumentieren die Geselligkeit und Freizeitbeschäftigungen der besseren Kreise. Sie sollten nicht zuletzt Wohlstand demonstrieren und zum Zusammenhalt der gesellschaftlichen Klasse beitragen.
Was ist heute aus der herrschenden Klasse des 19. Jahrhunderts geworden? Nur noch einer Hand voll Firmen steht ein traditionsreicher Name vor, die Unternehmen werden weitgehend von ausländischem Kapital kontrolliert. Die Politik hat ihre Anziehungskraft für die Nachfolger der Bürgerdynastien verloren, statt ihrer sind Sportler und Fernsehanimatoren ins Parlament gezogen. Verwaltungen werden von Technokraten mit Parteikarten geleitet. Die herrschende Klasse ist so entrückt und international geworden, dass sie für eine Abstraktion gehalten wird, „die Wirtschaft“ oder „die Märkte“.