Berlin ist eine Stadt, in der alles generell vierzig Minuten braucht. Bis die Verkäuferin das passende Kleiderstück im Lager gefunden hat. Bis der Barmann die Bestellung entgegennimmt und die Weinflasche entkorkt. Meistens ist es der Weg, der vierzig Minuten dauert. Vom Rand in die Mitte und von der Mitte an den Rand. Weil der Berliner an sich selten vierzig Minuten übrig hat im Tageslauf – bei der Ansammlung von Verkäuferinnen und Barmännern wird es niemand dem Berliner an sich verdenken –, bleibt er gerne unter sich. In seinem Kiez, seinem Viertel, seiner Straße. Der nächste Kiez, auch wenn er nur vier Statio-nen mit der U-Bahn entfernt liegt und in etwa fünf Minuten erreicht werden kann, ist eine Weltenreise entfernt. Der Tellerrand ist hoch. Ganz hoch. Ganz schön hoch. Wie weit muss es dann bis Luxemburg sein?
„Ja, kenn ick. Is aber janz schön weit. Fährste mit der U2 bis zum Alex und dann noch weiter. Steigste aus. Biste da“, sagt der weitgereiste Berliner und meint den Rosa-Luxemburg-Platz im Stadtbezirk Mitte. Der Bildungsbürger aus der deutschen Hauptstadt nähert sich umsichtiger dem Thema: „Wa, kenn ick. Da liegt unsa Hauptmann von Köpenick begraben. Hamse aber komische Blumen raufgepflanzt. Und dette macht ma nischt.“
Zeit für eine Annäherung. Für die Republik, die gen Osten rutschte, und das Großherzogtum, das an der Seite blieb. Seit drei Jahren bietet die luxemburgische Botschaft in Berlin allen Interessierten in thematischen Reihen Einblicke in das Leben und ein wenig auch das Leiden als kleinster Nachbar Deutschlands. Gleichzeitig vermitteln die Veranstaltungen eine Definition dessen, was Luxemburg ist. Vor zwei Jahren hieß es „Luxemburg ist Film“. Im vergangenen Jahr lud die Botschaft zu „Luxemburg ist Tanz“. In diesem Jahr gibt man sich ein wenig bescheidener und sagt ganz einfach: „Luxemburg ist GROSSherzogtum.“ Oder knapp: „Luxemburg ist groß.“
Wie groß Luxemburg sein kann, spannt dann den Bogen von der Ausstellung Die Silberkammer der Luxemburger Dynastie über den Vortrag Vor dem Urknall des luxemburgischen Wissenschaftlers Jean-Luc Lehners bis hin zu Grüße aus Luxemburg, einer szenischen Lesung mit Sascha Ley, Nora Koenig, Josiane Peiffer und Jean-Paul Raths, zu der sich an einem Montag im Mai auch zwei Wilmersdorfer Witwen in der diplomatischen Vertretung eingefunden haben, jene gutsituierten und gut alimentierten Damen aus dem gutbürgerlichen Stadtteil im Westen der Stadt. „Wa, da ham se sich aber ne schicke Botschaft jebaut“, kommentiert die eine. „Ick hab ne Stulle dabei“, sinniert die andere. Mit Hungergefühl.
Die Veranstaltungsreihe erlaubt viele Sichtweisen aufs Großherzogtum, gibt Einblicke, die tiefer gehen und weiter sehen, als wenn ein Orchester für einen Abend einen Saal füllt und dabei doch nur wohlgängige Werke hitverdächtiger Klassikkomponisten spielt. Die Reihe hat ihre Erfolge – wie an einem Montagabend im nahezu vollbesetzten Saal der Botschaft. Sie hat aber auch ihre Rückschläge, wie Botschafterin Martine Schommer eingesteht. Zum Poetry Slam-Abend seien nur 19 Besucher gekommen. Doch das liegt weniger an der Qualität des Programms denn am kulturellen Überangebot an einem Sonntagabend und der Ausrede, dass der Grüne Salon der Volksbühne, in dem Luc Spada und Bas Böttcher zum Check-in für den Poetry Slam baten, wohl wieder mehr als vier Station mit der U-Bahn entfernt lag.
Die Wilmersdorfer Witwen lernen in der Revue Grüße aus Luxemburg viel über das Land. Über die Minette. Über Neubrasilien. Und über den Wilhelmus, an den Josiane Peiffer – mit für Luxemburg ungewohnter Selbstironie – aus der Sicht der Großherzogin erinnert. In Luxemburgisch. Was die beiden Damen ratlos zurücklässt, als sich die Zuhörerschaft in Luxemburgischsprechende und Deutschsprachige trennt und sich zeigt, dass Luxemburg auch lustig ist. „Dette war wohl der Knaller, und wir beede ham nischt kapiert“, resümiert eine. Die andere: „Dann lass uns zum Fado jehn. Jibbet am Mittwoch.“ „Is dette nischt portugallisch?“ „Ja, auch der Fado gehört zu Luxemburg“, erklärt Schommer mit Selbstverständlichkeit, schließlich gebe es einen großen Anteil Portugiesen im Land. Mit deren Kultur.
Bundespräsident Joachim Gauck, den sich die Deutschen im März für große Reden und schöne Worte haben wählen lassen, gibt der Botschafterin Recht. Er sagte beim Empfang von Großherzogin Marie-Theresa und Großherzog Henri: „Luxemburg ist aus tiefer Überzeugung euro-päisch. Diese Überzeugung wünsche ich uns allen – zumal in einer Zeit, da viele in Europa mehr über die Krise Europas als über seine Errungenschaften sprechen. Aber wir dürfen nicht zulassen, Europa auf die derzeitige Staatsschuldenkrise zu verengen. Die Europäische Union ist die größte politische Erfolgsgeschichte unseres Kontinents. Die Luxemburger waren sich, früher und tiefer als manch andere, bewusst: Europa ist die Lösung, nicht das Problem.“
Für die Wilmersdorfer Witwen gibt es am Ende der Veranstaltung noch Schampes und Kanapees. Die Damen greifen zu. Nicht nur beim Buffet, sondern auch beim Infomaterial zum Großherzogtum. Und damit ist das Ziel erreicht: Interesse wecken. Für vermeintlich kleine Länder. „Kieck mal, da wohnen so viel Leute wie bei uns in Charlottenburg. Luxemburg ist janz schön groß.“ „Zügig“, antwortet die zweite und lässt sich nachschenken.