Hat der sozioökomische Status eines Menschen Einfluss auf das Risiko, im Alter an Demenz zu erkranken? Spielt dabei die Ernährung eine Rolle oder Stress? Wirken diese auf das Mikrobiom, womit die Riesenpopulation aller Bakterien im Darm gemeint ist, deren Wechselwirkungen mit anderen Organen, vor allem dem Hirn, die Wissenschaft dabei ist, Stück für Stück aufzuklären? Es könnte eine Wirkungsachse Ernährung-Mikrobiom-Darm-Hirn geben; darauf deuten jüngste Erkenntnisse hin. Und wenn der sozioökonomische Status Ernährungsentscheidungen beeinflusst, gibt es womöglich tatsächlich einen Zusammenhang zwischen sozialen Ungleichheiten und dem Demenzrisiko.
Diesen Fragen soll sich das Forschungsprojekt MCI-Biome an der Universität Luxemburg zuwenden. Geführt wird es von der Psychologin und Public-Health-Expertin Anja Leist, dem Neurologen Rejko Krüger und dem Mikrobiologen Paul Wilmes. „Es wird darauf ankommen, zwischen Einzelerkenntnissen klare kausale Zusammenhänge zu finden“, sagt Krüger. Bekannt sei bereits, dass die Ernährung eine Rolle spielt, ob sich ein „Mild cognitive impairment“ (MCI) entwickelt, eine Vorstufe für Demenz. Der Zusammenhang zwischen Mikrobiom und neurodegenerativen Erkrankungen sei ebenfalls „durch gute Studien nachgewiesen“, ergänzt Wilmes. Und Leist fügt an, „Beobachtungsstudien haben zum Beispiel gezeigt, dass jedes zusätzliche Schuljahr vor Demenz im Alter schützt. MCI-Biome wird solche Wirkmechanismen mit der Lupe anschauen.“ Es gehe um Vorgänge auf molekularer Ebene, sagt Wilmes, und was genau sie auslöst. Krüger betont, die Zusammenhänge seien auf jeden Fall komplex.
MCI-Biome ist eines von vier Pilotprojekten, mit denen die Universität zeigen will, wie interdisziplinäre Forschung funktionieren kann. „Die coolsten Dinge findet man an den Schnittstellen zwischen den Disziplinen“, ist Paul Wilmes überzeugt.
Dass die Uni interdisziplinär forschen soll, ist ihr im Universitätsgesetz sogar aufgetragen. Ein Schub in diese Richtung wird sich von dem Institute for Advanced Studies (IAS) erwartet, das vergangene Woche offiziell ins Leben gerufen wurde, an dem aber schon seit über einem Jahr gearbeitet wird. „Mutige“ interdisziplinäre Projekte soll es ermöglichen, wünscht sich Forschungs-Vizerektor Jens Kreisel, auf den die Idee zum IAS zurückgeht. Zunächst soll es eine virtuelle Plattform zum Ideenaustauch sein, die später auch profilierte Forscher/innen einlädt sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs inspiriert. Die vier Pilotvorhaben sollen demonstrieren, was daraus entstehen kann. Neben MCI-Biome ist das ein weiteres Projekt, das untersucht, welche Auswirkungen es hätte, wenn im Rechtssystem künstliche Intelligenz menschliche Entscheidungen übernimmt. Ein drittes soll mit neuen Methoden des Maschinenlernens Datensätze zur Einkommensverteilung durchforsten und Zusammenhänge mit Wohlbefinden und Gesundheit aufspüren. Das vierte schließlich heißt Luxembourg Time Machine. Es soll die industrielle Entwicklung der Südregion in sehr vielen Hinsichten erfassen, vom sozialen Wandel und politischen Prozessen bis hin zu Vorgängen in der Umwelt und der Gesundheit der Bevölkerung. An der Aufstellung dieser „Big data of the past“ wirkt neben dem Institut für Zeitgeschichte und digitale Geschichte an der Uni auch das Luxembourg Institute of Science and Technology mit.
Für die Universität hat im siebzehnten Jahr ihres Bestehens die Suche nach mehr Interdisziplinarität strategische Bedeutung. Im Grunde wendet sie sich damit Fragen zu, die bei ihrer Gründung in der Schwebe gelassen wurden; darunter die, was für eine Uni sie denn sein soll. Die politische Debatte war damals bewegt und konfliktreich. In der CSV-DP-Regierung war CSV-Premier Jean-Claude Juncker „viszeral“ gegen eine Uni. CSV-Justizminister Luc Frieden mochte sich nicht vorstellen, dass Rechtsanwälte an einer Universität Luxemburg ausgebildet würden. Große Teile der DP waren lange der Meinung, Luxemburger Student/innen sollten weiter ins Ausland gehen. CSV-Hochschulministerin Erna Hennicot Schoepges wiederum, die auch Kulturministerin war, sah die Uni eine Zeitlang nah bei der Hochkultur: Musikwissenschaften und darstellende Künste sollten unterrichtet werden, in Belval Künstlerateliers entstehen. Am Ende war die Ausbildungsrolle der zu gründenden Universität politisch nachrangig. Die EU hatte ihr erstes Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation, die „Lissabon-Strategie“, herausgebracht und propagierte die „Wissensgesellschaft“. Und so wurde entschieden, dass die Uni Luxemburg eine „Forschungsuniversität“ sein soll, dazu eine interdisziplinäre. Berater der Hochschulministerin empfahlen damals, anstelle weitgehend selbstverwalteter Fakultäten von Direktionen geführte interdisziplinäre Institute einzurichten, weil das effizienter sei. Ins Uni-Gesetz gelangte am Ende ein Hybridmodell, und heute hat die Universität drei Fakultäten und drei interdisziplinäre Institute.
Nun geht es unter anderem darum, wiedie Forschungszusammenarbeit zwischen diesen sechs Akteuren weiterentwickelt werden kann. Das IAS soll dabei helfen. An seinen vier Pilotprojekten fällt auf, dass für sie jeweils Wissenschaftler/innen der Fakultäten und der Institute verantwortlich sind. Forschungs-Vizerektor Kreisel findet, die Uni habe „eine starke disziplinär orientierte Forschung“ entwickelt. Nun will er Brücken über die an Programmen orientierte Forschung hinweg bauen. „Das IAS ist ausdrücklich themenoffen“, betont er. Und ist sehr zufrieden, dass zum Stichdatum in der vergangenen Woche weitere 15 Projektideen eingereicht wurden. Die kamen diesmal aus der Wissenschaftler/innen-Gemeinschaft selbst; die vier Pilotvorhaben dagegen hatte das Rektorat initiiert und bei hochkarätigen Forscher/innen dafür geworben, Ideen einzureichen. Jens Kreisel lässt durchblicken, dass das IAS auch als Instrument gedacht ist, um Spitzenleute an der Uni zu halten: Indem ihnen thematische Freiheit außerhalb der Uni-Prioritäten in Aussicht gestellt wird, pro Projekt 400 000 Euro für vier Jahre und überhaupt etwas Neues. „Top-Leute muss man zu halten verstehen“, sagt Kreisel. In einem „Bleibegespräch“, das er kürzlich geführt habe, habe ein Professor erklärt, dass „an der Uni Luxemburg etwas passiert“, sei einer der Gründe, weshalb er bleibe.
Dabei findet Forschung, die Grenzen überschreitet und Wissenschaftler/innen verschiedener Disziplinen zusammenarbeiten lässt, schon statt. Jean-Marc Schlenker, der Dekan der Fakultät für Natur- und Technikwissenschaften (FSTC), sagt, der Trend dahin bestehe weltweit schon länger. Mathematiker/innen und Physiker/innen zum Beispiel würden seit den Achtzigerjahren immer mehr zusammenarbeiten und voneinander lernen. Und er verweist auf Projekte zwischen Physiker/innen seiner Fakultät und Forscher/innen des Luxembourg Centre of Systems Biomedicine. „Über die Möglichkeiten, die sich da bieten, informieren wir mit Workshops. Foren dieser Art zum Ideenaustausch muss eine Fakultät anbieten.“
Katalin Ligeti, die Dekanin der Fakultät für Wirtschaft, Recht und Finanzen (FDEF), sieht Mathematik und Computerwissenschaften mit allen Bereichen ihrer Fakultät immer mehr verbunden. Nicht nur in Ökonomie und Finanzwissenschaften, sondern auch in der Jura: „Im ,Predictive Policing‘ zum Beispiel, das analytische Instrumente für potenzielle kriminelle Aktivitäten untersucht, müssen Wissenschaftler/innen heute auch die Technologien des Maschinenlernens kennen.“ Die FDEF treibe Interdisziplinarität zum Beispiel mit dem von ihr gegründeten „Centre on Sustainable Governnace and Markets“ voran. Diese virtuelle Plattform bündele die Expertise von 200 Forscher/innen.
Georg Mein schließlich, der Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät (FLSHASE), findet, dort sei die Interdisziplinarität schon jetzt „besonders groß“. Die Probleme der Moderne seien nicht nur die einer Disziplin. Was man unter anderem in den Erziehungswissenschaften erkenne, einer Forschungspriorität der Uni, die Pädagog/innen, Psycholog/innen, Soziolog/innen und Kognitions-
wissenschaftler/innen zusammenführt. Die klassischen Humanwissenschaften wie Geschichte oder Sprachforschung überdies würden sich ähnlicher Methoden bedienen und Narrative produzieren, die sich überlappen. Dass die Geisteswissenschaften für Interdisziplinarität prädestinierter seien als die Naturwissenschaften, glaubt Mein aber nicht: „Ich denke, auch die Grenzen zwischen Biologie und Chemie werden fließender.“
Doch wer Interdisziplinarität an einer Uni zum Programm machen will, steht vor einem Dilemma: Universitäten forschen nicht nur, sondern bilden auch aus. Und die Grundlage von Interdisziplinarität sind Disziplinen. „Ein Wissenschaftler muss zunächst disziplinär gearbeitet haben, ehe er das auch interdisziplinär tun kann“, betont Jean-Marc Schlenker. Das sei „eine wichtige Botschaft“. Auch Jens Kreisel sagt, „ohne die Disziplinen geht es natürlich nicht“. Das bedeutet allerdings auch, Doktorand/innen als wissenschaftlichen Nachwuchs einerseits disziplinär hochwertig auszubilden, ihnen andererseits zu zeigen, was es jenseits ihrer Disziplinen noch gibt. Rejko Krüger, der Professor für Neurowissenschaften, sagt, es komme darauf an, „eine Kultur zu entwickeln, einen Spirit“, damit Interdisziplinarität nicht nur von Professor/innen gewagt wird, sondern über die Forscher/innen im akademischen Mittelbau bis zu den Doktorand/innen reicht. „Die Uni Luxemburg ist darin gar nicht schlecht.“
Vor allem wird das mit Doctoral Training Units versucht, die interdisziplinär angelegt sind. In den ersten Jahren der Uni gab es schon Versuche, Disziplinen übergreifende Dissertationen zu ermöglichen. Aber das war schwierig. Als an der Fakultät für Wirtschaft, Recht und Finanzen ein Bereich angewandte Mathematik geschaffen wurde, zweifelten Fachkolleg/innen aus dem Ausland an der Qualität dieser Doktorarbeiten. Heute, sagt Fakultäts-Dekanin Ligeti, würden in den Doctoral Traning Units der FDEF Jura und Wirtschaft beziehungsweise Jura und Computerwissenschaft verbunden. Gruppen von Doktorand/innen trügen mit ihren Arbeiten zu einem gemeinsamen Thema bei, auch wenn die Promotion in einer Disziplin verliehen wird. Offenbar sind die Wissenschaften im Fluss. Doch sowohl Wissenschaftszeitschriften sind noch überwiegend disziplinär als auch die Forschungsförderung: „Ob man beim FNR einreicht oder bei der EU: Die Experten, die den Antrag durchsehen, sind Experten einer Disziplin“, sagt Christine Schiltz, Kognitionswissenschaftlerin und Vizedekanin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät. Die Konkurrenz sei ohnehin groß. Zu dendrei interdisziplinären Instituten der Uni sollen ebenfalls weitere Brücken gebaut werden. Was auch deshalb naheliegt, da die Uni sich in ihrem aktuellen Vierjahresplan vorgenommen hat, Gesundheit und Datenwissenschaften als förderierende Themen zu entwickeln. Was im Prinzip sowohl das Institut für Security, Reliability and Trust (SNT) betrifft, als auch das Institut für Zeitgeschichte und digitale Geschichte und das Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB). LCSB-Direktor Rudi Balling kann schon jetzt auf die Zusammenarbeit mit den Physiker/innen der Naturwissenschaftlichen Fakultät verweisen. In einem Programm Soft Matter wird gemeinsam daran gearbeitet, Phasenübergänge, we sie die Physik beschreibt, auf Vorgänge im menschlichen Körper anzuwenden. „Wenn sich damit biologische Vorgänge besser verstehen lassen, könnte das medizinisch nützlich werden.“ Vielleicht ließen sich dann schwere Erkrankungen vorhersagen.
Das LCSB bildet selber Doktorand/innen aus, zum Teil mit der FSTC-Fakultät. „Das ist eine Ausbildung, die sowohl experimentell als auch in Bioinformatik stark ist“, sagt Balling. Er findet, dass eine zu stark disziplinäre Ausrichtung der akademischen Ausbildung nicht praxisgerecht wäre: „Nur zwei bis fünf Prozent der Studenten mit Doktortitel werden später Universitätsprofessor.“ Dabei werde allein schon die Entwicklung in den Datentechnologien sämtliche Disziplinen umkrempeln und Interdisziplinarität überall nötig sein. „Da könnte eine interessante Frage lauten, was aus den Unis wird.“
Strategisch bedeutsam ist Interdisziplinarität demnach allemal. Jens Kreisel, der Forschungs-Vizerektor, sagt, die Universität Luxemburg sei dabei, ihre Strategie zu überarbeiten. In welche Richtung und was das im Zusammenhang mit IAS und Interdisziplinarität heißt, will er noch nicht sagen. In etwa einem Monat würden die Pläne konkreter.