Auch wenn der Umschlag auf ein artiges, nettes Kinderbuch schließen läßt - die Künstlerin heißt Isabelle, ist neun Jahre alt und hat offensichtlich Talent - ist Der Tag des Igels ein ernstes Buch, mit einem ernsten Thema und ernst zu nehmend geschrieben. Pol Schmoetten schreibt für mich persönlich nicht modern und nicht innovativ genug, um seinen Stil in den höchsten Tönen zu preisen, aber... er hat wenigstens einen. Karge Sätze, spröde, eher grüblerisch als beschreibend, eher zurückhaltend als mitreißend, und trotzdem... die Geschichte "funktioniert".
Wem der Gedanke zuwider ist, sich über 139 Seiten hinweg Gedanken über einen überfahrenen Igel zu machen und Pol Schmoettens akribischer Intro-Inspektion zu folgen, nun, dem muss man von diesem Buch abraten. Wer aber über einen investigativen Geist verfügt, sollte sich unbedingt in dieses Buch vertiefen. Es ist Krimi und Psychoanalyse zugleich, eine Mischung aus Tüftelei und Teufelei, die sich dem unweigerlich banalen und schrecklichen Ende geradezu entgegenquält. Manchmal lässt Schmoetten seine Sätze wie ein Zahnrad drehen, und jedesmal spürt man förmlich, wie es mahlt und dreht, auch wenn die Sätze sich bei genauerem Lesen und Nachlesen als eine Kette von Versatzstücken darbieten.
"Betroffen, und das endgültig, war hier nur einer, der Igel, und jener andere, der Täter, konnte nur - aber Herr Weber kam noch nicht los von den Worten, und sie rissen ihm die Sätze in der Mitte durch, was er hasste und dann doch wieder als Ausdruck überregen Geistes an sich selbst gerne zuließ, wenn nur der Faden wieder dorthin gelangte, wo er ihn ursprünglich hin -, denn betroffen war ja auch er, Weber, natürlich. Zwar anders betroffen wiederum, aber doch getroffen und betroffen derart schwer, und der Schandtäter war er eben sicher nicht. Denn solches tun zu können, kam ihm nicht einmal als Möglichkeit in den Sinn."
Das kann man getrost "moderner" ausdrücken, aufregender formulieren - aber besser?
Natürlich hat das Buch auch schwächere Passagen. Einen solchen inneren Monolog durchzuhalten, hätte wahrscheinlich die Auflösung jeder Erzählstruktur bedeutet, aber dazu fehlte, vielleicht, dem Autor der Mut? In der depressiven, hoch neurotischen Bürorealität eines Herrn Weber, in der ein toter Igel einen Selbstmord herbeiführen kann, muss man nicht unbedingt den Sisyphus des beginnenden Bürojahrtausends erkennen. Aber Paul Schmoetten hat sich mit viel Glück und Geschick an der Reling festgehalten, um in den Strudel hinab zu sehen. Anstatt in eine der sattsam bekannten Paraphrasen über ein mythologisches Totem-Tier auszuufern, behält sich der Erzähler Schmoetten immer noch ein Quentchen Rationalität vor. Das ist das Originelle und Wichtige an diesem Buch: es ist ein leise klagender, ja, fast luxemburgisch-gemütlicher Abgesang. Schmoetten schreibt nicht wie ein Deus ex machina, sondern, wie und für Otto Normalverbraucher, also den "Igel sub Machina". "Menschen hinter den Nummern hatte es für ihn doch schon immer gegeben. Aber jetzt standen sie plötzlich da, sie lebten, sie atmeten, sie dachten."
Das liest sich vielleicht weniger genial, blitzartig und explosiv als etwa in Manderscheids Fanal Die Dromedare, dafür aber mit der ruhigen, phlegmatischen Reflexivität eines Katzenauges am Straßenrand. Ja, vielleicht ist dies die beste Beschreibung, die mir für dieses Buch einfällt: Der Tag des Igels ist ein Katzenauge. Man sollte es auf keinen Fall übersehen.
Pol Schmoetten: Der Tag des Igels, Éditions Saint-Paul 1999; 144 Seiten, 590 Franken