Es duftet nach Huhn. Tatsächlich. In einem Kochbecken schwimmen Hähnchenschenkel, es müssen an die Hundert sein. Seit fünf Stunden schmoren sie vor sich hin, bei 80 Grad, in einer Suppe aus Karottenbrocken und Zwiebelstücken. „Der Sud muss richtig deftig schmecken“, erklärt der Koch und wagt eine Probe mit dem Esslöffel. Voilà, fertig ist die Vol-au-vent, jetzt fehlen nur noch die Fritten, so mögen es die Belgier. Seit Anfang September ist Luxemburg um eine Spezialität reicher, in der Rue Aldringen am Hamilius gibt es in der Baraque „echte belgische Pommes Frites“ mit dicker Mayonnaise, scharfer Samuraï-Soße oder Tartartopping. Die Vol-au-vent, die dort mit den Fritten serviert wird, ähnelt der Königinnenpastete. Im Nachbarland kann der Umfang des Blätterteigrings aber schon mal 20 Zentimeter Durchmesser haben, man teilt dort gerne mit Freunden. Wer in der Baraque seine Vol-au-vent ordert, bekommt aber natürlich keine Förmchen und das Hühnerfleisch ist auch nicht zerkleinert, neben der Portion Fritten liegt ein ordentliches Stück Hähnchenschenkel, 7,50 Euro kostet die Portion. Mit der Baraque hat sich die Belgierin Stéphanie Jauquet ein Stück Heimat nach Luxemburg geholt und damit auch dieses Gefühl aus der Kindheit, als sie mit der Mutter und Großmutter am Tisch saß und die frittierten Kartoffelstäbchen verschlang. Noch heute schwärmt Jauquet von der Bintje, die Kartoffel, die am Anfang jeder belgischen Pommesproduktion steht.
Seit 13 Jahren ist Stéphanie Jauquet selbstständig und hat mit der Gründung von 14 Cocottes-Läden etwas geschafft, was nicht jeder so leicht schafft. „Was eine Frau nicht so leicht schafft“, schieben manche Journalist/innen gerne an ihr Satzende, aber das hört Jauquet überhaupt nicht gerne. „Je mehr man wiederholt, dass es für eine Frau nicht selbstverständlich sei, Karriere zu machen, desto mehr brennt sich dieser Glaube ein“, sagt sie. „Ich hatte nie das Gefühl, weniger zu können als Männer und habe immer mein Ding gemacht“, sagt sie selbstbewusst. 2019 hat sie den Titel Business Woman of the Year geholt, der alle zwei Jahre von der Banque Internationale à Luxembourg (Bil) ausgelobt wird. Als Unternehmerin des Jahres hat sie sich gegen vier weitere Finalistinnen durchgesetzt. Mit Tränen in den Augen nimmt sie damals die mit 10 000 Euro dotierte Auszeichnung entgegen, „das, was ich tue, tue ich mit Leidenschaft“, erklärt sie der Jury. „Dieser Preis hält mir den ganzen Weg vor Augen, den ich gegangen bin.“
Der Weg von Stéphanie Jauquet beginnt mit 14 Jahren, als sie in ihrem kleinen Dorf in der Nähe von Namur in einem Restaurant zu kellnern anfängt. An den Wochenenden und später in den Semesterferien verdient sie sich hier ihr Taschengeld. Schnell ist ihr klar, „Mama, ich werde in den Gastronomiebereich gehen“, „als Kellnerin verdienst du doch nichts“, winkt die Mutter ab. „Nein, Mama, eines Tages werde ich mein eigenes Restaurant haben.“ Zunächst heuert die junge Frau bei La Fourchette à droite an, wo sie ihren späteren Ehemann kennenlernt. Mittlerweile gehen die beiden getrennte Wege, „er schrie zu viel rum in der Küche, das kommt heute nicht mehr gut an“, sagt Jauquet. Ihre Mutter kann es schließlich nicht mehr mit eigenen Augen sehen, als die Tochter 2008 das Restaurant Um Plateau übernimmt, da war sie schon gestorben. 2012 kommt das zweite Restaurant, À table, an der Cloche d’Or hinzu. Stéphanie Jauquet kellnert zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr, sie delegiert. Sie tut es auf eine Weise, die dazu führt, das Geschäft immer weiter voranzubringen und dazu, die Mitarbeiter/innen treu sein zu lassen. „Bonjour Jonathan, ist alles okay bei dir?“, fragt sie, als sie am Dienstag auf dem Plateau Altmünster in ihr ältestes Restaurant eintrifft. Vor elf Jahren hat Jauquet ihren Freund aus Kindertagen aus Belgien in das Großherzogtum geholt. Jonathan, der Tellerwäscher, ist bis heute geblieben. Ihr Büro hat Jauquet im ersten Stock, aber erstmal nach dem Rechten sehen, ein Schluck Wasser an der Bar, Smalltalk mit den Angestellten, wenn ein Gast kommt, gerne auch ein Gläschen Wein. Heute bestellt sie ein alkoholfreies Bier, „Zahnschmerzen und Antibiotikum“. Der Austausch mit ihren Gästen ist der Geschäftsfrau wichtig. Einige davon zählt Jauquet heute zu ihren Freund/innen. „Es dauert seine Zeit, mit Luxemburgern so richtig in Kontakt zu kommen“, sagt sie. „Ich habe oft das Gefühl, dass es für Luxemburger in gewisser Weise wichtig ist, wenn man es zu etwas gebracht hat.“ Etwas Stolz schwingt in Jauquets Stimme mit, als sie das sagt.
2014, Jaquet lebt nun seit 17 Jahren in Luxemburg, beginnt mit der Gründung ihrer Cocottes-Filialen ein beispielloses Geschäftsmodell. Die Idee, den immer geschäftigeren und in Zeitnot geratenen Büroarbeitern in der Hauptstadt ein Mittagessen zu bieten, das schnell zu haben ist, aber gesund und in penibelster Handarbeit zubereitet wird, stillt den Hunger vieler. Wie penibel und dass Cocottes wirklich keine Massenindustrieware ist, beweist ein Besuch in der Cuisine centrale in Grass. Hier hat der Koch aus Belgien die Vol-au-vent geschmort – etwa 15 Kilogramm Hähnchen für die Frittenbeilage der Baraque kommen ihm pro Woche unters Messer – und mit ihm sind 100 weitere Mitarbeiter/innen in der Großküche am Garen, Backen und Drapieren. 2019, das Jahr, in dem Jauquet ihren Preis bekommen hat, ist die Cocottes-Küche ins luxemburgisch-belgische Industriegebiet gezogen und kann der immer größeren Nachfrage gerecht werden. Was als erstes auffällt, ist die Überzahl an Männern. „Das ist erstaunlich“, kommentiert Jauquet, „zu Hause haben eher die Frauen die Kochlöffel in der Hand, im Gastronomiebereich kochen fast ausschließlich Männer.“ Vielleicht wollen Frauen keine Doppelbelastung. 2 500 Quadratmeter misst das neue Gebäude, eine Tür führt in die Production salée, eine andere in die Pâtisserie. Hier ist ein junger Mann gerade dabei, karamellisierte getrocknete Früchte in transparente Becher zu füllen. 50 bis 80 Becher macht er pro Tag, wie er sagt. Ein Mitarbeiter schiebt eine Kiste mit Fisch, der in einer roten Soße schwimmt, in die Kühlkammer. „Das ist Rote-Bete-Saft, wir benutzen hier weder Konservierungs- noch Farbstoffe“, sagt er im Vorbeigehen. Hinter der Tür Légumerie schnippelt die tätowierte Hand eines Mannes einen dicken Büschel Schnittlauch. Und noch einen dickeren Büschel. Und noch einen. Die Augen können mit dem Tempo des Messers kaum mithalten. Der Kollege ein paar Schritte weiter füllt Rote-Bete-Würfel in Becher, die er erst zur Seite stellt, wenn die Waage 40 Gramm anzeigt. Den Herbstsalat ergänzen Karotten, Zwiebeln, Quinoa und Avocado. Sieben Männer machen hier jeden Tag 2 000 Salate. Nebenan liegen gedünstete Pilze in schwarzen Plastikboxen und gewürfelte Karotten mit Kürbis. Die Zutaten für die Quiches, bis zu 1 000 Stück werden hier tagein, tagaus produziert. Geliefert werden Obst, Gemüse und alle weiteren Zutaten von La Provençale und Grosbusch. Bis zu 500 Kilogramm Gemüse pro Tag, die auch in den Salatbowls landen.
Das Gros bei Cocottes sind die Plats italiens, also Nudelgerichte, Lasagne, Salate, Tiramisu, Panna Cotta. „Die Leute wollen eher Leichtes essen, Nudeln mag ja auch fast jeder, aber wir sind dabei, demnächst mehr luxemburgische Gerichte in unser Sortiment aufzunehmen“, sagt Thomas Valentin, der in Grass für die Qualitätskontrolle zuständig ist. Was am besten geht? „Brownies und Himbeertörtchen“, sagt er. „Und Nudeln mit karamellisierten Rindfleischbouletten.“ In der Ausfuhrzone stehen kistenweise Weck-Gläser zur Auslieferung bereit. Drinnen Lasagne, Zucchinigratin, Reisgerichte. Der Vorteil von Gläsern als Verpackung ist, dass man von außen sieht, was drin ist und wie es drinnen aussieht. Schilder an den jeweiligen Gerichten zeigen, wo sie hingehen sollen: Cocottes Marnach, Merl, City Concorde, Belle étoile. Was in den Geschäften landet, ist am selben Tag oder Vorabend produziert worden.
Stéphanie Jauquet hat zu Beginn der Pandemie 2020 gleich geschalten. Auch ihre Cocottes mussten schließen, was ein Desaster war, weil die Büroangestellten und solche von den europäischen Institutionen durch das Homeoffice nun als Kunden wegfielen. Also ließ Jauquet das Essen zu ihnen nach Hause liefern. Mit Erfolg. Bei der Preisverleihung 2019 hatte sie noch angekündigt, in zwei Jahren ihren Umsatz auf 15 Millionen Euro zu erhöhen. 2021 hat sie es tatsächlich geschafft, und das, obwohl 2020 ein Stand-by-Jahr war.
14 Cocottes führt Jauquet heute mit insgesamt 200 Mitarbeitern, bis Ende des Jahres sollen noch drei weitere Cocottes hinzukommen: in Massen, Redange und Ingeldorf. Jauquet erweitert nun also ihren Radius und verteilt ihre Hühner auch außerhalb der Hauptstadt und Eschs. 17 Cocottes bis zum Ende dieses Jahres und drei Restaurants – das Tempo an der Philharmonie ist im September 2017 dazugekommen – gehören dann zu Jauquets Gastronomie-Imperium. Der Antrieb Jauquets, derart viele Cocottes aufzustellen, ist schnell erzählt. „Ich dachte mir, dass ich mit 50 vielleicht keine Lust mehr haben werde, im Restaurant zu stehen. Die Cocottes sind so etwas wie meine Ausgangstür“, sagt sie und lacht. Nächstes Jahr wird die Belgierin 50. „Aber ans Aufhören kann ich tatsächlich nicht denken, ich habe noch so viele Ideen und werde wohl so lange arbeiten, bis ich umfalle.“
Dass sie ihre Ausgangstür überhaupt finanzieren kann, liegt vielleicht auch an ihrem Standing in der Wirtschaftsbranche, das sie mittlerweile hat. Hinter der Finanzierung stecken nicht etwa Immobilienpartner, sondern ausschließlich die Bil und Spuerkess, wie sie sagt. Dabei war der Anfang für Stéphanie Jauquet alles andere als leicht. „Anfangs hat mir ein Freund mit dem Startkapital ausgeholfen. Ich habe die ersten sechs Monate auch viel geweint, fühlte mich unglaublich einsam in Luxemburg: Ich fragte mich, was ich in diesem Land nur zu suchen hatte.“ 24 Jahre ist das jetzt her. Vor ein paar Tagen hat sich das Logo von Cocottes verändert. Aus dem blauen Huhn, das nach vorne blickend Anlauf nimmt, ist ein schwarzes geworden, das den Kopf über den Boden neigt und pickt. Es ist ein Statement gegen die Verschwendung und für die Weiterverwertung, Cocottes setzt auf Recycling all seiner Verpackungen. Und es ist ein Bekenntnis. Das Huhn sucht nun anscheinend nicht mehr, nach sieben Jahren ist es angekommen. So wie Stéphanie Jauquet.