Theater

Der Würde wegen

d'Lëtzebuerger Land vom 20.10.2017

Als der französische Unternehmer Alain Prost, der die traditionsreiche Unterwäschefirma Lejaby 2012 nach einer Zwangsliquidation für einen symbolischen Euro übernommen hatte, eine weitere Fabrik in Frankreich, in Yssingeaux, schloss, um die Büstenhalter und Unterhosen, die sich mit ihrem made in France-Label brüsten, billiger in Tunesien herzustellen, haben sich die 90 hochspezia­lisierten Arbeiterinnen gewehrt. Viele von ihnen hatten dreißig, vierzig Jahre Dienstalter, hatten sich allen Wünschen der Direktion – schneller arbeiten, mehr produzieren, weniger Pausen machen – gebeugt, um ihren Job zu behalten. Und nun war es aus, einfach so, trotz ihres Könnens, ihrer Treue und ihrer Flexibilität. Die Medien waren damals voll von Porträts der Frauen, die zum Symbol der Opfer des blutrünstigen Neoliberalismus wurden. Die Arbeiterinnen versuchten sich zu wehren, besetzten die Fabrik, produzierten weiter, empfingen Politiker jeder Couleur, die sich vor laufenden Kameras solidarisch erklärten und versprachen, alles zu tun, um die Frauen vor der Arbeitslosigkeit zu retten. Die Frauen lancierten sich sogar in die Selbtsverwaltung der Fabrik, produzierten ab 2012 unter dem Namen „Les Atelières“ erneut – aber auch das Experiment scheiterte.

Der italienische Schriftsteller Stefano Massini, 1975 in Florenz geboren, war tief beeindruckt vom Kampf der Lejaby-Arbeiterinnen. Sein Stück 7 Minuten – Betriebsrat, das die Luxemburger Regisseurin Carole Lorang im Kapuzinertheater inszeniert, ist jedoch mehr als bloß eine Hommage an die Frauen. Es ist ein Stück über Kampf und Moral, über Solidarität, Angst und Würde.

Blanche (sehr tiefgründige Andrea Quirbach), die Sprecherin des Betriebsrats des Textilherstellers
Picard & Roche, wo sie seit drei Jahrzehnten am Webstuhl steht, ist in die Direktionsetage zitiert. Dort sitzt sie nun seit Stunden mit den neuen Besitzern der Firma und Vertretern ausländischer Investoren. „Blanche alleine mit zehn Krawatten“, erklären ihre zehn Kolleginnen des Betriebsrates, gewählte Vertreterinnen von rund 200 Arbeiterinnen des Betriebs, die alle gespannt darauf warten, was die neuen Besitzer mit ihnen machen werden. Werden sie ihre Schichten herunterfahren, ihren Lohn halbieren, die Hälfte des Personals entlassen?

Lorraine (wunderbar lebensfrohe Renelde Pierlot) ist erst 22 Jahre alt und seit einem Jahr im Betrieb, nachdem sie vier Jahre zuvor in einer ähnlichen Situation in einem anderen Betrieb entlassen worden war und sich als „Putze“ über Wasser halten musste. Für sie ist die Arbeit hier ihre einzige Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen – Heirat, Wohnung undsowseiter. Arielle (Nora Koenig, unter Strom) sagt, um sich zu definieren: „Ich bin meine Arbeit.“ Mit 36 arbeitet sie gerne in der Fabrik und ist zu so manchem Kompromiss bereit. Odette, „mehr Zigaretten als Gedanken“, kommt aus Frankreich (Sophie Langevin, sehr würdevoll) und hat damals mit Blanche bei Picard & Roche angefangen. Sie ist politisiert und hat Gewerkschaftsreflexe. Sie und alle anderen, oft diskreteren Frauen, warten gespannt auf Blanches Rückkehr.

Als diese also erscheint, besonnen bis besorgt, und die Frauen bittet, den schriftlichen Ersuch der „Krawatten“ gut zu überdenken, bevor sie in spätestens einer Stunde abstimmen, ist die Atmosphäre gereizt. Arielle bricht als erste in schallendes Gelächter aus, als sie den Brief liest. Was? Niemand verliert seinen Job, keinen Cents seines Lohnes, alles was der Betrieb von ihnen verlangt, als Zeichen ihres Entgegenkommens, ist, auf sieben Minuten ihrer viertelstündigen Pause zwischen den Schichten zu verzichten? Das ist doch wohl ein Witz! Natürlich sei das ein absolut akzeptabler Deal, finden die Frauen zuerst – und stimmen begeistert zu zehn gegen eine dafür. Nur Blanche, die „den Job genau so braucht wie ihr“, hat ein ungutes Gefühl: Das ist für sie der erster von lauter kleinen Schritten: „Die wollen sehen, was sie kriegen können – immer ein bisschen mehr“. Denn sieben Minuten pro Arbeiterin, das macht zusammen 600 Stunden zusätzliche Gratisarbeit, die das Personal dem Betrieb pro Monate schenken würde.

Während einer Stunde debattieren die Frauen über das Wenn und Aber, tauschen Wut, Resignation und Hoffnung aus. Dem Betrieb geht es gut, weiß die kleine Streberin Sophie, 19 Jahre und Buchhalterin (eine naive Katharina Bintz, die Neuentdeckung der Produktion), die es normal fände, dass die Eigentümer sich auch etwas herausnehmen wollen. „Eigentümer müssen doch nicht in jedem Fall Dreckskerle sein“, argumentiert Agnes, die polnische Gastarbeiterin (Sophia Carla Brocker), die noch an das Gute im Boss glauben will. Mireille (Rosalie Maes) und Rachel (Leoni Schulz), die Rebellinnen, sind eher fatalistisch: Die da oben machen doch eh, was sie wollen. Doch Blanche gibt lange nicht auf, kämpft wie eine Löwin um ihren Standpunkt zu verteidigen: es geht doch nicht nur um die elf Frauen im Betriebsrat, sondern um alle. Sogar um die anderen Fabriken, die ihr Votum als Signal deuten werden.

Carole Lorang hat das Stück sehr zurückhaltend inszeniert, naturalistisch, fast schon dokumentarisch. Die herausragende Ästhetik des realistischen Bühnenbildes, mit seinen Spindwänden und Neonröhren (Katrin Bombe) und die detailreichen Kostüme (Peggy Wurth) lassen das Publikum in eine versteckte, grausame Welt der Arbeit eintauchen, in der die Angst ums eigene Überleben nach und nach überhandnimmt und Werte wie Solidarität und menschliche Würde verschlingt. „Wir können die Dinge verändern“, glaubt Blanche in der zweiten Hälfte des Stückes, „es kann doch nicht immer die Schuld des Systems sein“. Sie nannten es „freundlichen Faschismus“, diese netten Briefe des Patronats, mit einer klitzekleinen Bitte. Der Anfang vom Ende, für Blanche.

7 Minuten – Betriebsrat von Stefano Massini, deutsche Übersetzung: Sabine Heymann; in einer Inszenierung von Carole Lorang, künstlerische Mitarbeit: Linda Bonvini; Bühne: Katrin Bombe; Kostüme: Peggy Wurth; Licht: Bart van Merode; Dramaturgie: Carmen Bach; Musik: Kyan Bayani; mit: Katharina Bintz, Sophia Carla Brocker, Nora Koenig, Antonia Labs, Sophie Langevin, Talisa Lara, Rosalie Maes, Renelde Pierlot, Andrea Quirbach, Leila Schaus und Leoni Schulz; eine Koproduktion der Théâtres de la Ville de Luxembourg und des Staatstheater Mainz; weitere Vorstellungen im Kapuzinertheater am 24. und 26. Oktober, ab
4. November in Mainz; www.theatres.lu.

josée hansen
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