Mit seiner Erstaufführung von Jonas Hassen Khemiris » [ungefähr gleich] begleitet uns Regisseur Stefan Maurer in eine einem ersten Anschein nach lose Collage aus unterschiedlichen persönlichen Lebenswegen. Alle Figuren suchen sehnlichst nach ihrem festen Platz in der wirtschaftlichen Berufswelt. Nicht alle wollen das Maximum erreichen, doch jeder wünscht Fuß zu fassen in einer Welt, die durch Wert, Kosten-Nutzen-Denken und Besitz definiert wird: Willkommen im Leistungswahn des Homo œconomicus.
Da ist Martina, die als Doppel-Ich von der Eröffnung eines Bioladens träumt. Sie hofft, ein Sommerhaus zu erben, doch reicht es nur zum Tafelsilber. Ihr Mann Mani erhofft sich eine Festanstellung als Professor für Wirtschaftsgeschichte, doch bleiben ihm die Studierenden fern und der Vertrag in weiter Ferne. Auch Andrej, der sein Glück im Kleinen sucht und zwischenzeitlich in Martinas Tabakladen aushilft, muss die Drakonie der Arbeitsagentur erleben, deren Hauptbestreben nicht die Stellenvermittlung, sondern Schikane und fatalistisches Klischeedenken ist. Peter hingegen bettelt mit allen rhetorischen Tricks um so manches Almosen, damit er – so seine Behauptung – die Zugfahrt bezahlen und seine verunglückte Schwester im Krankenhaus besuchen kann.
Schließlich und endlich greifen diese unterschiedlichen Episodenrädchen ineinander, nehmen die Gestalt einer zusammenhängenden Geschichte an. So wackelt das klare Verhältnis von Gewinner und Verlierer, und Grauzonen tun sich auf. Die anfangs noch klaren wirtschaftstheoretischen Formeln lassen sich in der Praxis nicht konsequent anwenden: Wie handeln reale Personen vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Ordnungen, heißt es im Programmheft. Ist alles wirtschaftlich nicht Verwertete schlicht „ungenutztes Verkaufspotenzial“? Die anfangs durch Casparus van Houten angeschriebene Formel des Unterhaltungsindex’ UX sowie das später von Laura Lorenzo optimierte Theorem verlieren in dieser Realität ihre Bindungskraft. Denn der Mensch funkt mit seinem Hang zu nicht quantifizierbaren Träumen, Wünschen und Irrationalitäten gehörig dazwischen. Das Menschliche zu quantifizieren, kann nie genau, kann nur „ungefähr gleich“ sein.
Stefan Maurers Interpretation zu diesen Monologen des Scheiterns ist eingebettet in die Kulisse einer haushohen Gardine aus Druckerpapier, leicht bogenförmig herabhängend, zugleich als Vorhang und Flipchart genutzt. Beschrieben wird die Zellulosewand mit Van Houtens Theorem, das zugleich versucht, die Existenz zu quantifizieren. Dazu gesellt sich eine Telefonnummer, auf die sich so manches Individuum im Kommunikationszeitalter begrenzen lässt. Über diese Momente hinaus wirken die Papierrollen leer und nutzlos. Sie werden von den scheiternden Protagonisten nicht mit Leben, Ideen und Fantasie erfüllt. Die ihnen fehlenden Perspektiven machen sie zu Gestalten, die an diesem Leben vorbeihecheln, keine Funktion übernommen haben. Zum Möbelstück reicht ein markantes Möbelstück aus dieser Welt: der Bürostuhl.
Maurers Inszenierung lebt jedoch insbesondere von ihren teilweise herausragenden Darstellern. Konstantin Bühler übernimmt in diesem Sinne nicht nur die Rolle des Gescheiterten, er begegnet dem nach Gewinnoptimierung hinterher keuchenden Treiben seines Umfelds und der durch den Unterhaltungsindex auch noch theaterkritischen Noten dieser Produktion aus selbstbewusst hochnäsiger Beobachter-Distanz. In ihrer natürlichen Hektik und im zaghaften Versuch an der Unmenschlichkeit gegenüber ihrer verunfallten Kollegin überragt aber niemand so sehr wie Petra Förster, die dem Ende hin zu Hochform aufläuft. Auch Sebastian Herrmann spielt den leidenschaftlichen und doch selbstmitleidigen Wissenschaftler gekonnt.
Die Handlung findet ihren Rhythmus aus dem Stand, das Finale dieses zweistündigen Theaterabends ist ohne Zweifel geprägt von atmosphärischer Dichte und sprachlicher Wucht. Beispielweise aber in jener Szene, in der die beiden Martina-Figuren sich im Tabakladen Wunsch und Frust von der Seele reden, wird die Überlänge zu deutlich und Langatmigkeit macht sich breit.
Maurers » [ungefähr gleich] ist thematisch nicht immer originell und doch bewegend. Die Komposition von Wirtschaftsgeschichte, kommentierenden Figuren, Einbindung des Zuschauerraums und realer Handlung sorgt trotz Längen jedoch für einen interessanten Thea-terabend im Théâtre des Capucins.