Fräulein Else und Leutnant Gustl

Zweitausend Schritte Schnitzler

d'Lëtzebuerger Land vom 23.09.2016

Im Parforceritt durch die Berliner Nacht. Schauspieler Max Thommes verlangt seinen Zuschauer einiges ab, vor allem aber, Schritt zu halten. Mit ihm. Und dabei im Stück bleiben. Durch ihn. Raus aus dem Hotel. Wegen ihm. An Touri-Kneipen vorbei, in hinterhöfige Parkanlagen, dann doch runter in einen unterirdischen Bahnhof, hoch in die vielstöckige Einkaufspassage, nochmals in einen beleuchteten Hinterhof, dann zurück ins Hotel.

Es sind zweitausenddreihundertachtundvierzig Schritte. Schnitzler. Oder vielmehr Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl, der durch die Nacht hetzt, gespielt von Max Thommes. Aus der gleichnamigen Novelle entsprungen, hat ihn Boris C. Motzki zu einem Theaterstück gemacht, das das Luxemburger Kollektiv Maskénada Ende August in Berlin gespielt hat.

Es zeigt die vermeintlich letzte Nacht im Leben des Militärs Gustl, der nach einem Konzert wegen einer Nichtigkeit mit einem Wiener Bäckermeister in Streit geraten ist. Aus der nebensächlichen Rempelei wird für den standes- und klassenbewussten Offizier gleich eine Frage der Ehre. Da er sich aber mit dem gesellschaftlich Niedrigeren nicht duellieren kann, sieht Gustl – so verlangen es die Etikette und die Regeln seiner Zeit – keinen anderen Ausweg aus der Misere, als den Dienst zu quittieren und sich am nächsten Morgen das Leben zu nehmen. Nun hetzt er durch die Stadt, hat Angst vor dem Selbstmord, der dennoch unausweichlich scheint, hängt am Leben, das er so aber nicht mehr weiterführen kann. Rastlos treibt es ihn voran, als sei er auf einer Flucht vor der eigenen Entscheidung.

Vor dieser steht auch Fräulein Else, eine weitere Novelle von Arthur Schnitzler, die Motzki fürs Theater adaptiert hat: Die 19-jährige höhere Tochter muss darüber befinden, ob sie sich dem Kunsthändler Dorsday für eine Viertelstunde nackt zeigt. Gegen Bezahlung. Das Geld braucht ihr Vater, ein berühmter Anwalt, der Gelder veruntreut hat, unbedingt. Sonst ist er ruiniert und die Familie mit. Einen ganzen Abend zögert und zaudert Else, kokettiert damit, dass ja eigentlich nichts dabei sei, sich nackt zu zeigen, denn es diene ja einzig dem Zweck, die Familie vor dem Bankrott zu retten. Als letzten Ausweg sieht sie noch immer das Beruhigungsmittel, das ihr die Schmach lindern, wenn nicht sogar ersparen kann, indem sie alle Pillen schluckt.

Das Stück – wie auch die Novelle Schnitzlers – bezieht seine ungebrochene Aktualität vor allem aus dem Gebrauch des Internet in der heutigen Zeit: Es gibt keine Scham mehr, keine Reflexion, so viele Gedanken sich Fräulein Else auch machte, wie sehr sie abwog zwischen ihrer Reputation und der Rettung der Familie vor dem Bankrott; so sehr sie sich damit auseinandersetzte, wie und wo sie sich vor dem alten Mann entblößen würde – heute ist das alles kein Ding mehr. Es genügt ein Mausklick, und Selfies vom letzten Strandtag im Urlaub sind in alle Welt gepostet. Unwiderrufbar, unlöschbar. Die soziale Selbstentblößung ist veröffentlicht. Aus und in purer Gedankenlosigkeit.

Auch Else geht es, wie Leutnant Gustl, um die Ehre, um gesellschaftliche Konventionen, um die Diskussion von Moralbegriffen in einem inneren Monolog. Es zeigt sich, wie schnell oder langsam, wie spontan oder wohlüberlegt ethische Kodizes über Bord geworfen werden, wenn es einen äußeren Anlass dazu gibt, wenn die menschliche Seele zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlicher Selbsterhaltung aufgerieben wird, wenn man soll und doch nicht kann.

Regisseurin Marion Rothhaar hat beide Stücke zu einem einzigen Theaterabend verbunden. Das hat seinen Reiz. Das hat seinen Fluch. Rothhaar unterliegt dabei der derzeit in der Theaterszene gängigen, aber aufgesetzten Praxis, die Vierte Wand zu durchbrechen und die Zuschauer direkt ansprechen zu lassen, sie einzubeziehen, damit noch mehr Aktualität schaffen zu wollen, bis auch der letzte begreift, dass Schnitzler eigentlich hochaktuell ist. Doch bei inneren Monologen und Gedankenströmen tut es nicht immer gut, wenn der innere Monolog zum äußeren Dialog mit wahllosen Menschen wird, die eigentlich gar nichts sagen wollen. Während Larisa Faber als Else dies meistert, erliegt Max Thommes dem Spiel und gibt sich und seine Person dem Klamauk preis. Das kann funktionieren, nicht aber bei einer Figur, die in Entscheidungsnot durch die letzte Nacht des Lebens gescheucht wird. Aus dem Getriebenen wird schnell eine Lachnummer, wenn auch Thommes – und das ist sein schauspielerisches Talent – beide überzeugend gibt.

Faber kommt dabei zugute, dass sie in einem geschlossenen Raum spielt. Bei der Inszenierung in Berlin ist es die Bibliothek eines Grandhotels. Passender, wenngleich sicherlich nicht realisierbar, wäre eine Suite in eben einem Luxushotel gewesen. Thommes hingegen verläuft sich in den Gängen, Fluchten, Parks und Passagen des Potsdamer Platzes. Rothhaar hatte die Idee, die letzten Stationen Gustls abzulaufen. Das Publikum musste dem Berserker Thommes folgen und sich immer wieder auf die veränderte Akustik einstellen. Dann bricht der Spannungsbogen schnell ab, die Konzentration ist dahin und das Stück verkommt zur Klamotte, die in der Hotelbar endet. Weniger wäre mehr gewesen, auch an Lautstärke, denn im Bahnhof musste Thommes gegen durchrauschende Schnellzüge deklamieren. Das Aufheben der vermeintlichen Zwängen des Schauspiels mag seinen Reiz haben, doch gerade an diesem Schnitzler-Abend zeigt sich, dass es nicht immer funktionieren kann und muss.

Gelungen bleibt der Verweis auf ethische, moralische Wertvorstellungen und Begriffe, auf gesellschaftliche Konventionen und Zwänge, auf das Beiseiteschieben von alledem und auf die Frage, ob soziale Netzwerke diese überhaupt noch kennen, wenn es kein Denken und keine Gedanken mehr gibt. Dann gibt es auch keine Wertvorstellungen mehr.

Fräulein Else und Leutnant Gustl. Mit Larisa Faber als Else, Max Thomes als Gustl. Musik und Choreografie: Gianfranco Celestino. Regie: Marion Rothhaar. Ein Stück von Boris C. Motzki nach Motiven von Arthur Schnitzler. Eine Produktion von Maskénada, Luxemburg. Termine und weitere Informationen: www.maskenada.lu.
Martin Theobald
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