Über das Paradox des griechischen Philosophen Zenon von Achilles und der Schildkröte mussten Schüler in der Schule nachdenken. Der Vorsokratiker gilt als der Erfinder der Dialektik. In seinem Paradoxon beschreibt Zenon, wie der schnelle Achilles die langsame Schildkröte nie einholen kann, wenn die nur einen ordentlichen Vorsprung bekommt, denn die Schildkröte gewinnt in einer gegebenen Zeit wieder einen, wenn auch kleineren Vorsprung gegenüber dem Achilles. Weil Zenon diese Vorsprünge ins Unendliche fortsetzt, kann Achilles die Schildkröte nie erreichen, geschweige denn überholen. Ähnlich scheint es mit dem Natur- und Artenaschutz in der Europäischen Union zu laufen. Trotz aller Anstrengungen ist der Artenschwund der Naturschutzpolitik in der Praxis immer einen Schritt voraus.
Das Paradox ist aber auch noch aus einem anderen Grund interessant. Es wird vermutet, dass Zenon es entwickelte, um zu zeigen, dass es keine Vielheit, sondern nur ein einziges unveränderliches und unzerstörbares Ganzes gebe. Wie zerstörbar das Ganze ist, wissen wir inzwischen. Welche Bedeutung die aus der Vielzahl zusammengesetzte Gesamtheit für die Menschheit hat, müssen wir immer noch mühsam erlernen.
Aber es tut sich etwas. Weltweit ist die Europäische Union nach wie vor führend in Natur- und Umweltschutz. Vor 20 Jahren, am 21. Mai 1992, beschloss der Rat die erste europäische Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen. Bekannt wurde die Richtlinie als Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. Gemeinsam mit der Vogelschutzrichtlinie von 1979 bildet sie das Kernstück der EU-Naturschutzpolitik. Auf der Grundlage dieser Richtlinien wurde das europaweite Netzwerk Natura 2000 aufgebaut. Es weist innerhalb der EU an Land und im Meer schützenswerte Flächen aus. In der ganzen EU finden anlässlich des Jubiläums in diesem Frühjahr Veranstaltungen statt, auch in Luxemburg. Die FFH-Gebiete sind keine strikten Naturschutzgebiete, in denen jegliche menschlichen Aktivität untersagt ist, sondern es geht darum, die ausgewiesenen Gebiete gegebenenfalls so zu bewirtschaften, dass der Artenschutz darunter nicht leidet. Insgesamt werden über 1000 Arten in mehr als 200 Habitaten wie Wiesen, Wälder, Sümpfe geschützt.
Seit 1992 haben die Mitgliedstaaten nach der FFH-Richtlinie 22 594 Gebiete mit europaweiter Relevanz auf einer Fläche von 583 888 Quadratkilometern ausgewiesen. Das entspricht 17,5 Prozent der Fläche (Stand Juni 2011). Hinzu kommen Meeresgebiete, die in den nächsten Jahren ausgebaut werden sollen. Obwohl schon 20 Jahre vergangen sind, sind selbst an Land noch immer nicht alle infrage kommenden Flächen ausgewiesen, ein Restbestand bleibt. Die EU-Kommission musste im Mai 2011 einräumen, dass sie mit ihrem ursprünglichen Ziel, den Artenschwund bis 2010 innerhalb der EU zu stoppen, gescheitert ist. In der Presseerklärung heißt es: „In Europa ist die Biodiversität gefährdet und das Artensterben hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Viele Ökosysteme sind so stark geschädigt, dass sie nicht mehr das breite Spektrum der Dienste – von sauberer Luft und sauberem Wasser bis zur Bestäubung landwirtschaftlicher Kulturpflanzen oder dem Hochwasserschutz – erbringen können, von denen wir abhängig sind.“ In der EU sind etwa 25 Prozent der Tierarten, einschließlich Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Vögel und Schmetterlinge, vom Aussterben bedroht. 88 Prozent der Fischbestände sind überfischt oder erheblich dezimiert.
EU-Umweltkommissar Janez Potoˇcnik hat deshalb vor einem Jahr eine neue Strategie vorgestellt. Dieses Mal soll es bis 2020 damit klappen, den Artenschwund zum Stillstand zu bringen. Kernpunkte sind die vollständige Umsetzung der bestehenden EU-Naturschutzvorschriften, die Wiederherstellung von Ökosystemen, die Sicherstellung nachhaltiger Land- und Forstwirtschaft, den Erhalt der Fischbestände, die Bekämpfung der Einwanderung fremder Arten, die immer stärker zum Artenschwund beitragen, sowie EU-Beiträge gegen den Artenschwund auf globaler Ebene.
Im Dezember hatte der Rat die Strategie zustimmend zur Kenntnis genommen und eine neue Rahmengesetzgebung befürwortet, die Bestandsaufnahme, Monitoring und Fortschrittsberichte beim Artenschutz europaweit regeln soll. Bis die vorgelegt und beschlossen ist, wird noch einige Zeit vergehen. Da Wunder auch im Naturschutz eher selten sind, könnte es der EU wieder so gehen wie im letzten Jahrzehnt. Dann müsste der amtierende EU-Umweltkommissar 2021 ähnlich wie 2011 feststellen, dass man sein Ziel zwar nicht erreicht, aber beim Scheitern enorm viel gelernt habe. Damit das nicht passiert, will die Kommission die Mittel im Hauptfinanzierungsprogramm Life von 2,1 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2007 bis 2014 gerne auf 3,2 Milliarden Euro für 2014 bis 2020 erhöhen. Ob das gelingt und ob die Mittel dann auch in allen Ländern sinnvoll eingesetzt werden können, ist angesichts der aktuellen Debatte über den Haushaltansatz für die Europäische Union und den Zustand der öffentlichen Finanzen mancher Mitgliedstaaten zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen.
So könnte das Paradox eintreten, dass trotz herausragender EU-Politik, sieht man sie im weltweiten Vergleich, steigenden Problembewusstseins und wachsendem Wissen, über das, was sich in Europas Fauna und Flora tut, dennoch nur vereinzelt ein Erfolg beim Bekämpfen des Artenschwundes einstellt. Die EU muss aufpassen, dass es am Ende nicht die Schildkröte ist, die Achilles davon läuft. Dabei zeichnen sich auch die ökonomischen Schäden durch Artenschwund immer deutlicher ab. Darüber schreibt das Studienzentrum TEEB, das der G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm ins Leben gerufen hat, und das erfolgreich immer mehr internationale Unternehmen ermuntert, sich aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten für Artenschutz und biologische Vielfalt einzusetzen.