Ein großer Schritt für die Europäische Union, ein kleiner Schritt für die europäische Demokratie: Seit dem 1. April können die europäischen Bürger die so genannte Europäische Bürgerinitiative starten. Mindestens eine Million Bürger aus mindestens sieben EU-Staaten müssen eine Unterschrift leisten, damit sie das Recht erhalten, die EU-Kommission dazu aufzufordern, dass diese bei einem von den Unterzeichnern wichtigen Anliegen tätig wird. Einer erfolgreichen Initiative wird eine Anhörung im Europäischen Parlament zugestanden. Für die Initiative können nur solche Themen ausgewählt werden, bei denen die EU-Kommission berechtigt ist, Rechtsakte vorzuschlagen.
Mindestens sieben Bürgerinnen und Bürger aus mindestens sieben EU-Staaten müssen einen so genannten Bürgerausschuss bilden, der der Träger der Initiative ist. Organisationen sollen diesen Ausschuss nur dann unterstützen dürfen, wenn dies in voller Transparenz geschieht. In der Praxis deutet sich aber schon an, dass diese Bestimmungen wegen des hohen Verwaltungsaufwands und der hohen Kosten nur pro forma eingehalten werden. Die EU-Kommission hat nach der Registrierung drei Monate Zeit, um eine Initiative anzunehmen oder abzulehnen. Die Unterschriften müssen innerhalb von zwölf Monaten gesammelt werden, um gültig zu sein. Selbst bei einer erfolgreichen Initiative kann die Kommission im Nachhinein darlegen, warum sie doch keinen Gesetzesvorschlag vorlegen möchte. In den einzelnen Ländern müssen Mindestbeteiligungsquoten erfüllt werden. Für Luxemburg liegt diese bei 4 500 Unterschriften, für Deutschland bei 74 250. Für die Errechnung der Länderquoten wird die Anzahl der EU-Abgeordneten mit 750 multipliziert. Die einzelnen Mitgliedstaaten sind für die Kontrolle der Unterschriften verantwortlich. Sie haben sich auch nicht das Recht nehmen lassen, dass sie selbst festlegen dürfen, welche Angaben bei einer Unterschrift geleistet werden müssen. Die Uneinheitlichkeit ist mehr als ärgerlich. 18 Mitgliedstaaten fordern neben den Angaben zur Person auch die Aus[-]weisnummer und in Griechenland muss man aus nicht nachvollziehbaren Gründen sogar den Namen des Vaters angeben. Das alles steht im Gegensatz zu den vollmundigen Äußerungen von Maroš Sefcovic, Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für Institutionelle Beziehungen und Verwaltung, man habe die Verordnung für die Europäische Bürgerinitiative so unbürokratisch wie möglich formuliert und die Hürden für die Initiative so niedrig wie möglich angesetzt.
Die Erwartungen an die Europäische Bürgerinitiative sind so hoch, dass Enttäuschungen vorprogrammiert sind. Das gilt nicht nur für die Initiativen. Das EU-Establishment erhofft sich wahlweise eine bessere Legitimation der EU-Politik, eine bessere Ein- und Anbindung der Europäer, die Förderung einer europäischen Öffentlichkeit und die Möglichkeit, dass die EU-Bürgerinnen und Bürger die politische Agenda der EU entscheidend mitbestimmen. Der liberale britische EU-Abgeordnete Andrew Duff, einer der Hauptakteure des Europäischen Parlaments beim Verfassungskonvent von 2002/2003, bringt das so auf den Punkt: „Wir brauchen nun europäische Bürger, die sich aktiv engagieren und nützliche Gesetzesvorschläge machen, die darauf abzielen die europäische Einheit zu vertiefen und die EU effektiver zu machen.“ Da, wo das Europäische Parlament regelmäßig scheitert, sollen es nun die Bürgerinnen und Bürger richten. Andrew Duff ignoriert, dass die Europäische Bürgerinitiative keine Vertragsänderungen zum Inhalt haben darf. Maßnahmen zur Vertiefung und Effektivität lassen sich in der Regel aber nur durch eine Änderung der Verträge umsetzen. Grundlegende Verbesserungen an der Statik des europäischen Gebäudes sollte deshalb niemand erwarten. Dennoch freut sich Andrew Duff schon auf die erste Initiative, die „Ja zu Europa!“ sagt. Es könnte aber auch sein, dass sich für das Gegenteil viel leichter eine Mehrheit finden ließe.
Die Europäische Bürgerinitiative hat auf dem Verfassungskonvent das Licht der Welt erblickt. Der deutsche Verein ‚Mehr Demokratie‘ reklamiert die Einführung als seinen Erfolg. Ursprünglich wollten die Aktivisten von ‚Mehr Demokratie‘ erreichen, dass die europäische Verfassung in einer europaweiten Volksabstimmung abgelehnt oder angenommen wird. Als zweites Ziel kämpften sie für die Einführung verbindlicher europäischer Referenden. So gesehen ist die Bürgerinitiative wieder einmal der kleinste europäische Nenner. Und selbst dieser konnte nur auf der letzten Präsidiumssitzung des Konvents durchgesetzt werden, nachdem das Präsidium den Vorschlag zuvor schon einmal abgelehnt hatte.
Mit den ersten Entscheidungen der EU-Kommission über die Zulässigkeit von registrierten Initiativen ist frühestens im Herbst 2013 zu rechnen. Und das gilt auch nur dann, wenn Initiativen schon jetzt ihre Vorbereitungen abgeschlossen haben. Die Homepage der Initiative für eine Europäische Bürgerinitiative listet bereits dreizehn Initiativen. Die ‚Europäische Wasser-Initiative‘ will die Privatisierung von Wasserwerken verbieten, sie wird von der europäischen Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst getragen. Eine Initiative der Internationalen Allianz von Journalisten für den Erhalt der Meinungsvielfalt in den Medien will am 26. April an den Start gehen. Sie wird unterstützt von der ‚Open-Society-Stiftung‘ des Milliardärs und Finanzspekulanten George Soros. Eine europäische Schulinitiative kämpft für die Einführung eines europäischen Abiturs und dafür, dass jeder, der es wünscht, eine europäische Schule besuchen kann. Die Initiative „Lasst mich wählen“ setzt sich für das volle Wahlrecht für jeden EU-Europäer in dem Land seines Wohnsitzes und die freie Wahl der Staatsangehörigkeit ein. Es gibt Initiativen für volle Eherechte in der ganzen EU für Schwulen und Lesben, den Ausstieg aus der Kernenergie, die Einführung eines europäischen Freiwilligendienstes, ein Grundeinkommen, ein freies Internet und die Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen in weiten Bereichen der Steuer- Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Einführung der Finanztransaktionssteuer und eines verbesserten Datenschutzes stehen ebenfalls auf dem Programm. Wie das aber in einer Demokratie so ist, haben nicht nur die Fortschrittlichen das neue Instrument für sich entdeckt. Pro Life startet eine Initiative gegen das Recht auf Abtreibung.
Man darf gespannt sein, wie viele Initiativen es schaffen werden, für ihre Forderungen auch Unterschriften sammeln zu dürfen. Der Umgang der EU-Kommission mit der Europäischen Bürgerinitiative wird nicht einfach sein. Wenn sie sich genau an alle Bestimmungen hält, wird sie viele Initiativen ablehnen müssen. Es könnte sein, dass dieser wichtige Hoffnungsträger für mehr europäische Demokratie dann in der Öffentlichkeit das Ohnmachtsgefühl gegenüber den europäischen Institutionen verstärkt. Sollte dieser Fall eintreten, wäre es dennoch kein Schaden, sondern könnte den Boden bereiten für ein stärkeres und grundsätzlicheres Eintreten der Europäer für ihre demokratischen Rechte auf der EU-Ebene.