Die Rahmenbedingungen haben sich seit der letzten Kandidatur grundlegend verändert. Da ist einerseits die Zusammensetzung des Direktoriums selbst, die sich geändert hat und Mersch den Vorteil gibt. Denn neben dem Italiener Mario Draghi gehören der Portugiese Vitor Constâncio und der Franzose Benoît Cœuré, der Deutsche Jörg Asmussen und der Belgier Peter Praet dem Direktorium an. Soll die Nord-Süd-Balance wieder hergestellt werden, wenn die Amtszeit von José Manuel González-Páramo endet, müsste ihm ein Vertreter des geldpolitischen Nordblocks folgen. Als solcher hat sich Mersch klar profiliert. In der Vergangenheit hat er eher als andere Kollegen Zinshaussen angedeutet, um die Gefahr steigender Inflationsraten zu bannen. Die Geldentwertung einzudämmen hat für ihn oberste Priorität, und somit ist seine Auslegung des Zentralbankmandats eine ganz enge.
Mersch, der oft so leise spricht, dass man ihn kaum hört, sagt dies klar und deutlich. Das hat ihn auch bei Volkswirten populär gemacht. Zumindest bei den deutschen. In einer Umfrage der Financial Times Deutschland von Anfang Februar wollten 16 der 23 befragten Ökonomen am liebsten Mersch bei der EZB sehen. Nur einer stimmte für den spanischen Kandidaten Antonio Saínz de Vicuña. Ihm wird vorgeworfen, kein Ökonom, sondern ein Jurist zu sein. Dabei hat auch Mersch seinen Abschluss in Jura gemacht und ist kein Volkswirt. Dafür kann er mit Erfahrungswerten trumpfen: er ist seit 1998 Zentralbankgouverneur und damit von den Anfängen des Euro an mit von der Partie.
Mersch wurde vor allem in den vergangenen Monaten zum gefragten Mann in deutschen Medien, folgte den Spuren Jean-Claude Junckers im Late-night-Politik-Talk. Weil er als Luxemburger Deutsch spricht und weil er in deutschen Medien die Meinung vertrat, die Euro-Mitgliedstaaten müssten ihre Haushalte sanieren, statt von der EZB ein Eingreifen in die Schuldenkrise zu fordern. Das kommt sicherlich nicht nur bei Volkswirten, sondern bei den Teilen des deutschen Publikums gut an, das glaubt, die Euro-Rettung gehe auf Kosten der Bundesrepublik.
Da aber enden die Parallelen zu Juncker, der sich zuletzt so verklausuliert ausdrückte, dass man Auszüge seiner Interviews in Comedy-Sendungen einspielte. Doch anders als Juncker, der sich gerne mal selbst auf die Schippe nimmt, in Brüssel so tut, als ob er in die ihm vorgehaltenen Mikrofone beiße oder spaßeshalber den spanischen Finanzminister würgt, macht Mersch selten bis nie öffentlich Scherze.
Ein Mann des Volkes ist er nicht. Er hat vielmehr eine exemplarische Technokratenkarriere absolviert, die 1975 im Finanzministerium begann. Danach arbeitete er zwei Jahre in Washington beim IWF, kehrte kurz ins Finanzministerium zurück, um dann zur Luxemburger Vertretung bei der Uno in New York zu wechseln. Zwischen 1983 und 1998 war er beim Zentralbankvorgänger, dem Institut monétaire luxembourgeois, tätig, war zwischenzeitlich Regierungskommissar bei der Luxemburger Börse, Präsident des Office du Ducroire, Vize-Präsident der SNCI; war Mitglied in den Aufsichtsräten der Arbed, der SES, der Post, der Sparkasse und der Société nationale des habitations à bon marché und in den Gremien der Europäischen Investitionsbank (EIB), der Euro-päischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklungsvertreten. Seit 2011 ist er Co-Vorsitzender der regionalen Konsultationsgruppe Europa des G-20 Gremiums Financial Stability Boards (FSB).
Hochgelobt in Deutschland, findet Mersch in französischen Medien selten Erwähnung. Das muss aber nicht nur am Luxemburg-Boykott in Folge der Steuerparadiespolemik liegen. Oder daran, dass er wegen Junckers anhaltenden Auseinandersetzungen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Sippenhaftung genommen würde, sondern vielleicht ganz einfach an seinen geldpolitischen Überzeugungen. Im Rennen um den Sitz im EZB-Direktorium gilt Mersch als ausgemachter Verbündeter der Deutschen und soll Medienberichten zufolge im Mai 2010 im EZB-Rat dagegen gestimmt haben, dass die Zentralbank europäische Staatsanleihen kauft, sowie er im August 2011 dagegen gestimmt haben soll, das Programm wiederaufzunehmen. Die Idee Frankreichs, dem Rettungsschirm EFSF eine Banklizenz zu erteilen, damit er Geld von der Zentralbank borgen kann, lehnte Mersch ebenfalls ab. Solche Positionen mag man in Paris Angela Merkel verzeihen. Einem Luxemburger weniger – obwohl die Positionen, die Mersch bezieht, längst nicht immer deckungsgleich mit denen der Luxemburger Regierung sind.
Im Mai 2010 erhielt der 1949 geborene Mersch sein drittes Mandat als Luxemburger Zentralbankchef. Halten er und seine Mitarbeiter meist mehr Distanz zu den Promotions-gremien und -bemühungen der Luxemburger Finanzbranche als beispielsweise die CSSF, versucht er auf anderer Ebene, die Sichtbarkeit Luxemburgs zu steigern. Regelmäßig fungiert die BCL als Mitorganisator von Konferenzen, bei denen Wirtschaftswissenschaftler in Arbeitsgruppen Themen der Finanzmarktstabilität und -regulierung besprechen. Während allein die Konferenztitel beim breiten Publikum Schwindel auslösen, ziehen sie Spezialisten aus der ganzen Welt an. Auch die Vor-stellung der BCL-Jahresbilanz ist immer ein fester Termin im Kalender von Bankiers und Politikern, bei dem Yves Mersch bevorzugterweise Live-Jazz-Musikeinlagen zwischen den Reden aufbietet.
Früher als andere interessierte sich Mersch für islamische Finanzen – vergangenes Jahr tagte das Islamic Financial Services Board, sozusagen der Weltverband der islamischen Finanzwelt, im katholischen Luxemburg. Für den Zentralbankgouverneur ein riesiger persönlicher Erfolg. Während Finanzminister Luc Frieden seit Jahren seiner Ankündigung, einen Luxemburger Sukuk, also islamische Anleihe, zu lancieren keine Taten folgen lässt, ist Mersch seit 2010 Vize-Vorsitzender der International Islamic Liquidity Corporation, die sich mit dem Problem der oft mangelnden Liquidität islamischer Finanzprodukte beschäftigt. Auch auf anderen Fronten zeigt sich Mersch findig. So bietet sich die Luxemburger Zentralbank beispielsweise als Dienstleister für andere Zentralbanken bei der Verwaltung ihrer Goldreserven an, erschließt sich damit auch Nebeneinkünfte.
In Luxemburg machte Mersch regelmäßig Schlagzeilen, indem er der Regierung Tatenlosigkeit und Reformstau vorwarf, die Abschaffung des Index verlangte oder sich wahlweise mit der Statistikbehörde Statec oder der Finanzaufsicht CSSF anlegte, die man am besten in die Zentralbank integriert hätte. In die Rolle des Provokateurs schlüpfte er problemlos. Seinen frontalen Konfrontationskurs hat er in den vergangenen Monaten ein wenig abgeschwächt. So bringt er inzwischen mehr Verständnis für das Statec auf, das bei der Erstellung seiner Wachstumsprognosen mit den Eigenheiten der kleinen und spezialisierten Luxemburger Wirtschaft kämpft, weist schon mal auf gute Zusammenarbeit mit der CSSF hin und brach[-]te als Alternative zu seiner altbekannten Forderung nach der Abschaffung des Index die Entfernung der Ölprodukte aus dem Warenkorb ins Spiel – woran die Regierung aktuell arbeitet. Schlagzeilen über die Kredite, welche die BCL den isländischen Banken gewährte oder Berichte über die Verluste, welche die Zentralbank wegen der Finanzkrise hinnehmen musste, las Mersch hingegen weniger gern.
Wurde seine Kandidatur für die Vize-Präsidentschaft 2009/2010 noch von lautstarken Protesten von EZB-Gewerkschaftsseite in Frankfurt begleitet, die sich in einem Brief an Ratspräsident Herman Van Rompuy gegen ihn aussprach und ihm mangelnde Bereitschaft zum Sozialdialog vorwarf, würde so weit heute keine der damals involvierten Gewerkschaften gehen. Das Klima, die Einstellung innerhalb der Bank habe sich geändert, berichtet der Präsident der ABCL, Claude Wies, welcher der Direktion, Yves Mersch inklusive, mittlerweile einen offenen und aktiven Sozialdialog bescheinigt.
Weil am Montag in Brüssel keine Entscheidung über die Personalie Mersch fiel, halten sich in Luxemburg alle mit Spekulationen über mögliche NachfolgerInnen zurück. Doch ob Mersch nun wechselt oder seine Amtszeit in Luxemburg beendet – wenn seine Nachfolge ansteht, wird innerhalb der Regierung sicherlich sehr genau über-legt, welches Profil man für seine Nachfolge sucht. Seine Unabhängigkeit von der Regierung hat Yves Mersch stets unter Beweis gestellt. Auch ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin muss dieses Kriterium schon allein aufgrund der EZB-Gründungsverträge erfüllen. Ob das aber heißen muss, dass er oder sie mit der Regierung – zumindest öffentlich – quasi permanent auf Kriegsfuß stehen muss, steht auf einem anderen Blatt.