Im September beschert uns die Natur nicht nur Äpfel, frische Nüsse und mehr Kürbisse, als man vertilgen kann, sowie farbenfrohen Wald. Seit einigen Jahren kann man entlang des Alzetteufers von Alzingen durch Clausen bis nach Ettelbrück ein weiteres Naturspektakel beobachten: die Verwandlung der einheimischen Fauna, die fremdartige Charakteristiken annimmt. Sie streift ihr übliches Gewand ab. Stattdessen tragen die Männchen kleinkarierte Hemden und knappe Ledershorts mit Hosenträgern. Die Weibchen stützen ihren Busen, schnüren sich die Taille ein und binden sich Schürzen um. Diese Naturerscheinung wird irreführenderweise Oktoberfest genannt, obwohl es im September stattfindet.
Das Phänomen der Seppl und Dirndl hat sich derart ausgeweitet, dass, wer Ende September abends durch Alzingen fährt, den Eindruck haben kann, durch einen Riss im Zeit-Raum-Kontinuum geschlüpft und ungewollt in der süddeutschen Alpenregion des vergangenen Jahrhunderts gelandet zu sein. Das wirft die Frage auf, warum derart viele Luxemburger sich die Volkstracht eines fremden Landstrichs überziehen, um literweise Bier zu trinken, nervenaufreibende Musik zu hören und fettig zu essen, während im Parlament eine Petition für ein allgemeines Vermummungsverbot an öffentlichen Orten hinterlegt wurde, um zu verhindern, dass Mitbürger aus anderen Kulturkreisen ihre traditionelle Kleidung tragen dürfen?
Sicher, der Bayer an sich kann hierzulande schon allein deshalb auf Sympathiepunkte zählen, weil er die Deutschen nicht nur ungeniert „houere Preis“ nennt, sondern dasselbe praktisch in nur einem Wort ausdrückt: „Saupreiß“. Dass ist ein unwiderlegbares Indiz dafür, dass das Bayerische dem Luxemburgischen mindestens ebenbürtig ist. Außerdem lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem „Bayer“ und dem „Boier“ im „Lëtzeboier“ nicht leugnen, der bevorzugten Schreibweise für „Lëtzebuerger“ all derer, die in Sozialnetzwerken den Verfall und Verlust der nationalen Sprache bedauern.
Angesichts des Kulturkampfes, den Regierung und Kirchenfabriken um deren Besitz inszenieren – für deren Erhalt übrigens auch eine Petition im Parlament hinterlegt wurde –, könnte der Verdacht aufkommen, dass es sich bei den Oktoberfesten, die derzeit überall im Land stattfinden, um eine Art des politischen Protests gegen die liberale Regierungskoalition handelt. Von hier aus gesehen, steht in Bayern schließlich nicht nur noch die Kirche im Dorf, dort ist auch die christlich-soziale Regierung noch im Amt. Da das Oktoberfest in Alzingen bereits seit 15 Jahren organisiert wird, decken sich die Anfänge der Bewegung zeitlich nicht ganz mit denen der Amtszeit Jean-Claude Junckers, kann in der Folge aber auch nur schwerlich als Ausdruck radikalen Widerstands gegen dessen Abwahl interpretiert werden.
Bleibt die Liebe für Bayerische Motorenwerke (BMW) und den Fußballverein Bayern München.
Dass es in Luxemburg eine noch höhere Dichte an BMW gibt als im gelobten Ursprungsland der sportlichen Wagen mit Hinterradantrieb, beruht auf einem tragischen Missverständnis. In Luxemburg bleibt der Kauf eines BMW Ausdruck dafür, dass der Aufstieg in eine höhere soziale Klasse geschafft ist, weil sich noch nicht herumgesprochen hat, dass in Deutschland die besseren Leute, wie Vorstands- und Regierungschefs Mercedes fahren und sie den BMW eher für ein Proletarierauto oder Zuhältermobil halten.
Die leidenschaftliche Anhängerschaft vieler Luxemburger für den FC Bayern hat ihren Ursprung in einer Mischung aus Durst, Ambitionen und dem Größenverhältnis dazwischen. Es ist nur rational, dass es unter den Luxemburgern mehr Bayern-Fans gibt als beispielsweise Fans des 1. FC Köln. Schließlich fasst eine bayrische Maß einen ganzen Liter Bier auf einmal und damit fünfmal mehr als eine Kölner Stange. Außerdem gelingt den Bayern immer wieder, was der Luxemburger Nationalmannschaft verwehrt bleibt: Sie spielen nicht nur gut, sie treffen tatsächlich auch das Tor. Zusammengefasst heißt das: Wer zu Bayern hält, bekommt mehr Bier und darf sich darüber hinaus zu den Gewinnern zählen. Wer da auf Mikro-Ebene auch nur über einen Funken des Pragmatismus verfügt, der in den Luxemburger Staatsgeschäften Methode ist, muss nicht lange überlegen, wo seine Loyalitäten liegen.
Vielleicht ist die zunehmende Popularität und die Ausbreitung der Oktoberfeste, inklusive der Ausstellung von historischen Dirndl-Modellen im Einzelhandel, auch einfach nur darauf zurückzuführen, dass die weltoffenen und unternehmungslustigen Luxemburger zwischen Schobermesse und Weihnachten einen weiteren Anlass für geselliges Zusammensein gesucht haben. Doch wenn man beispielsweise den Slogan des Oktoberfestes 2016 „15 Jahre! Jubiläums-Wiesn. I mag di!“, beziehungsweise die Speisekarte übersetzen würde (Hier ein paar Versuche: „Gebuertsdagswiss – Ech si frou mat dir“, „en hallwe Poulet vum Grill“, „Lyoner mat Gromperenzalot a Moschter“ für 14 Euro, „zermätschte Camembert mat Botter, Stoffi, Schmand a Bratzelen“), ginge das für Luxemburg verträgliche Maß an Exotik flöten und es würde schnell deutlich, dass die Luxemburger Sprache kaum das nötige Vokabular bereitstellt, um ein schwungvolles Volksfest mit Blaskapelle zu organisieren...