Schon vor zwei Jahren hatte Michel Reis mit seinem nachdenklich und verträumt daher fließenden zweiten Album Fairytale gezeigt, dass er ein Meister des programmatischen Jazz ist, ein Geschichtenerzähler sondergleichen, der uns gemeinsam mit dem Saxophonisten Aaron Kurziki in ausdrucksvollen Nummern wie A Princess’ dream, Adventurer in search of a treasure, Raindrops oder Dayminder in seinen Bann gezogen hat. Programmatisch, atmosphärisch und verführerisch ist auch die Musik des dritten Albums des jungen Jazzpianisten. Die Titel heißen The power of beauty, Sailing away at night, Riverside drive oder Street of memories, das Album Point of no return – eine Hommage, wie Reis in einer Notiz unterstreicht, „an das Malerische und Filmische in der Musik“.
Sehr viel von dieser Programmatik entfaltet sich aus sehr konkreten, greifbaren, oft lyrischen und melancholischen Klaviermotiven heraus, die sich an der Romantik, an Chopin, Schumann, Schubert zu inspirieren scheinen. Daraus, dass er ein klassisch geschulter Pianist ist, macht Michel Reis keinen Hehl. Auch nicht daraus, dass seine großen Vorbilder Jazzlegenden wie Duke Ellington und Errol Garner sind. Nach ersten Erfahrungen mit Jazz und Blues in der Jazzklasse des Hauptstädtischen Musikkonservatoriums, wo er bei Gast Waltzing und Kris Defoort studierte, zog es Reis in die Vereinigten Staaten ans Berklee College und ans New England Conservatory in Boston, wo er mit Künstlern wie Joe Lovano und Danilo Perez, Dave Holland und Frank Carlberg zusammenarbeitete. Michel Reis lebt derzeit in New York City, wo er am Wochenende im Miles’ Cafe und eine Woche später in der Puppets Jazz Bar in Brooklyn auftreten wird.
Reis ist ein Universaltalent und ein Allroundkünstler. Das stellt er in seinem neuen Album unter Beweis. Er ist klassischer Pianist und Jazzmusiker, ein begnadeter Improvisator und ein inspirierter Komponist: Alle neun Nummern von Point of no return sind Eigenkompositionen. Aus den schlichten Klaviermotiven heraus entwickelt das junge Talent komplex verschachtelte Strukturen, einen spritzigen Jazz, gespickt mit Improvisationen und Soli, bei denen seine Kollegen voll zum Zug kommen: der brillante, mit seinem frechen, schroffen Timbre virtuos auftrumpfende New Yorker Saxophonist Aaron Kurziki, der Reis bereits bei Fairytale zur Seite stand, der engagiert in die Saiten greifende Bassist Tal Gamlieli aus Israel, der Latin Drummer Adam Cruz, der Erfahrungen bei Chick Corea und Danilo Perez gesammelt hat, und der indisch-amerikaischen Trompeter Vivek Patel, der in The Power of beauty, It’s only been a dream und Riverside drive für schmeichelhafte Sensibilität auf dem Flügelhorn sorgt.
So dreht, unter dem Impuls dieser souverän musizierenden Künstler, die Michel Reis in Boston kennen gelernt hat, der Titelsong wie ein lebendig kreisendes Pepetuum mobile. Die gefühlvollen Motive und Phrasen der Kompositionen breiten sich aus im Raum, variieren, verändern sich in Rhythmik und Tempo, und kommen mal introvertiert und kontemplativ daher, mal ausgelassen und tosend, aber durchgehend inspiriert, subtil und geschmackvoll. Ein intensives Hörerlebnis.