Eigentlich wollte sich der parlamentarische Ermittlungsausschuss über den Geheimdienst aus Rücksicht auf die Gewaltentrennung nicht in ein laufendes Gerichtsverfahren, den Bommeleeër-Prozess, einmischen. Doch der ehemalige Direktor des Nachrichtendienstes, Marco Mille, legte dem Ausschuss am vergangenen Freitag seine Theorie über die Terrorwelle der Achtzigerjahre dar. Und während die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft als Tatmotiv den „Idealismus“ für bessere Arbeitsbedingungen kämpfender Elitegendarmen nachzuweisen versucht, legte Mille fast beiläufig eine „politische Theorie, eine politische Diskussion“ vor, die weiter führt als alle bisherigen. Denn sie läuft auf den jahrzehntealten Machtkampf zwischen christlich-sozialen und liberalen Offizieren und Politikern hinaus, in dem – auch wenn Mille als Geheimdienstler darüber kein Wort verliert – manche Protagonisten im Auftrag verschiedener Dienste der US-Armee agiert haben dürften. Wenn die Theorie denn nicht bloß der Diversion dienen soll.
Bei der Untersuchung der Terrorwelle habe der Nachrichtendienst laut Mille festgestellt, „dass es eine Struktur geben musste, die eng organisiert war, die unter einem gewissen Schutz arbeiten konnte, die nahe an Ermittlungen war, und die eine ganz spezialisierte Ausbildung hatte“. Der in der Vergangenheit wiederholt verdächtigten „Stay-behind-Organisation, die ja ein Teil des Nachrichtendienstes war“, hätten aber „die Fähigkeiten, die Gelegenheit und das Motiv“ gefehlt. „Die Frage, die sich stellte: Gab es daneben eine Parallelstruktur? Und darauf kann ich Ihnen bis heute keine Antwort geben. Das ist immer noch eine ganz pertinente Frage.“
Dass es neben dem als Stay behind, Gladio oder „le Plan“ bekannt gewordenen paramilitärisches Netz von Schläferagenten hierzulande ein zweites, vielleicht militärisches Netz von auch für Sprengstoffanschläge ausgebildeten Agenten gab oder gibt, ist eine Vermutung, die schon vor mehr als 20 Jahren in einem Zeitungsartikel geäußert wurde. Danach könnte ähnlich für Luxemburg gelten, was der belgische Senat 1991 in seinem Bericht Enquête parlementaire sur l'existence en Belgique d'un réseau de renseignements clandestin international über die Anwerbung von Agenten durch einen einen belgischen Kolonel des Nato-Kommandos Shape schrieb: „Alors que les différents témoins ont toujours affirmé que le S.D.R.A. VIII et le S.T.C./Mob. constituaient le seul stay behind en Belgique, ces données indiquent qu’il y avait peut-être d'autres réseaux du même genre. Ces éléments se trouvent confirmés par une série de documents déclassifiés du département d'Etat et mis à la disposition de la Commission par un journaliste. Ils montrent clairement qu'au début des années soixante encore, chaque service O.T.A.N. était doublé d'un service américain. La Commission n'est pas parvenue à déterminer quelles étaient la nature et les activités exactes de cet autre stay behind. Vu les directives générales édictées par le N.S.C., il se pourrait que ce stay behind eût pu être mis en œuvre non seulement en temps de guerre, mais aussi en période de subversion interne ou de risque d'une prise de pouvoir par les communistes.“
Um seine Theorie zu bekräftigen, zitierte Mille aus dem Bericht der parlamentarischen Geheimdienstkontrollkommission von 2008 Les activités du réseau „Stay behind“ luxembourgeois über ein geheimes Militärmanöver, an dem auch der heutige ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser teilnahm: „L’exercice Oesling 84 (Flintlock 84) était un exercice à double action en terrain libre opposant les forces ‚Bleu’ aux forces ‚Orange’ dans le cadre d’une manoeuvre de défense en surface. L’exercice comprenait aussi bien les volets infiltration/exfiltration, collecte de renseignements et participation des Cdo luxembourgeois à des cours d’initiation aux méthodes de combat et techniques de sabotage des Forces Spéciales U.S.“ Das aber ist für Mille „genau die Definition von Stay behind“, und er fragte sich: „Wieso trainiert die Armee neben dem Nachrichtendienst im Grunde das, was die wesentliche Materie des Stay behind ist, während die offizielle Vertretung Luxemburgs in den Stay-behind-Strukturen über den Nachrichtendienst wahrgenommen werden?“
Luxemburg wurde „irgendwann zwischen 1953 und 1957“ Mitglied des internationalen Stay-behind-Netzes, so Mille. „Zu der Zeit wurde das in der Armee getan. Das Zweite Büro der Armee gab es zu der Zeit noch, und zu der Zeit gab es noch keinen zivilen Geheimdienst. Und das ist eine Schlüsselzeit. Die muss man betrachten, und da muss man die Protagonisten betrachten, die dahinter stehen, was zu der Zeit geschah.“
Wenn man verstehen will, „was hinter der ganzen Logik Bombenleger steckt, dann sei „das die Zeit, wo Sie schauen müssen: 1946 – 1959/1960 – 1974 bis 1978... Wenn Sie diese Theorie schauen, dann sind Sie in einer politischen Theorie, einer politischen Diskussion, das ist alles rein hypothetisch, aber es wird zumindest plausibel. Und nebenbei würde es auch noch eine Erklärung liefern, welche Rolle Herr Hellinckx gespielt hat.“
Im August 1946 wurden, vermutlich auf Betreiben von CSV-Außenminister Joseph Bech, dem Vater des Maulkorbgesetzes, die im Widerstand aktiven liberalen Armeeoffiziere Robert Winter, Emile Krieps, Rudy Ensch und Jean Juttel festgenommen, denen vorgeworfen worden war, einen Putsch gegen die Regierung unter CSV-Premier Pierre Dupong geplant zu haben. Ein Gericht erklärte die Vorwürfe für haltlos, denn es ging in Wirklichkeit nach Kriegsende um die politische Restauration durch die Entmachtung der Resistenz und die Kontrolle über die neue Armee.
Zum Attentat auf das Haus des DP-Politikers Camille Hellinckx meinte Mille: „Herr Hellinckx wurde 1959, was für mich das Schlüsseldatum ist, vom damaligen Minister für die Armee und öffentliche Macht, Eugène Schaus, in eine Kommission genannt, um die Gendarmerie und die Sûreté publique zu reformieren. Die Sûreté publique zu dem Zeitpunkt war die, ich erinnere bloß, die Herr Krieps, Colonel Winter ein paar Jahre zuvor, 1946, verhaftet hatte im Rahmen des so genannten Putsches.“
1960 wurde der Nachrichtendienst unter CSV-Premier Pierre Werner gegründet, der Stay behind wurde unter dem liberalen Armeeminister Eugène Schaus an den neuen Nachrichtendienst abgetreten. „Wenn es eine Stay behind-Parallelorganisation gab, dann musste die ja irgendwann geschaffen worden sein“, meinte Mille. „1960 wär ein gutes Datum, denn damals ist die Stay-behind-Organisation, die es bei der Armee gab, von der Armee in den zivilen Nachrichtendienst versetzt worden. Das hatte etwas mit politischer Kontrolle zu tun, und es ist möglich, dass die politischen Verantwortlichen zu dem Zeitpunkt, als sie das verloren, das nicht akzeptiert haben. Und ich halte das für ganz wahrscheinlich.“
Oder waren erst anderthalb Jahrzehnte später konservative Militärs nicht mit der Ausrichtung des Stay behind zufrieden und gründeten ihr eigenes Agentennetz – vielleicht, wie in Belgien, auf Druck oder mit Hilfe der USA? „Weshalb habe ich 1974 bis 1978, namentlich 1978 gesagt?“, fragte Mille. „1977 haben wir dokumentiert, dass der Nachrichtendienst nicht den gesamten Abschnitt Sabotage machen darf.“ Das wäre „eine andere Möglichkeit gewesen, wo Parallelstrukturen hätten geschaffen werden können. Die Verantwortlichen, die dahinter stehen, sind wieder genau dieselben Personenkreise, wenn Sie das historisch betrachten, dieselben Leute. 1978 wurde eine BMG gegründet.“ Damals, 1978, hieß der Armeeminister Emile Krieps, ein angeblicher Putschist von 1946; zwei Mitglieder der BMG, der Brigade mobile de la gendarmerie, sind derzeit beschuldigt, Bomben gelegt zu haben.