Ein Lkw-Fahrer ohne Herz. Ein fieses Kind. Eine kluge Dirne. So hängen sie da. Gerahmt und hinter Glas. Keine Berliner, keine Luxemburgerinnen und Luxemburger in Berlin. Es sind Werke von Véronique Verdet. Eine der vier Künstlerinnen und Künstler aus Luxemburg und Saarbrücken, die im vergangenen Jahr ein „grenzübergreifendes Stipendium“ erhalten haben, wie es die Beschreibung der Saarländischen Galerie in Berlin verkündet. Artmix heißt das Programm, das „eine mehrmonatige Atelierresidenz in den beiden Grenzstädten Luxemburg und Saarbrücken“ bietet, „um künstlerischen Austausch zu stiften und um das Netzwerk zwischen Künstlerinnen und Künstlern in der Grenzregion zu stärken.“ Die Ergebnisse der neunten Artmix-Auflage sind derzeit in Berlin zu sehen. Herausgekommen sind dabei unter anderem die Märchenmotive der Französin Verdet, die wie Erpresserschreiben in Klebebuchstaben aus Zeitungsüberschriften zusammengeklebt wurden.
Über Kunst und Schönheit lässt sich vortrefflich streiten. Über deren Sinnhaftigkeit noch mehr. Und über die Frage, ob das „weg kann?“ am allermeisten. Aber darum geht es gar nicht an einem warmen, lauen Spätsommerabend in Berlin, in dem die Schau in der Saarländischen Galerie eröffnet wird. Es ist stickig. Warm. Das Personal serviert saarländischen Moselwein und Schnittchen mit zu viel Mayonnaise und zu wenig Ei. Es werden Reden geschwungen. Die eine zu laut. Die andere zu leise. Zu lang sind beide. Bis dann Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel ans Mikrofon tritt, um kurz und knapp darzulegen, worum es geht an diesem Abend in diesem ehemaligen Ladenzeilengeschäft in überkommener Plattenbau-Architektur, das nun Kunstraum und Atelier, Galerie und Schaufenster sein soll. Für das Saarland. Und auch für Luxemburg.
Es geht um Grenzen. Ein Wort, das im Nebenwirkungen-Beipackzettel zur Ausstellung viel zu häufig vorkommt, wenn von Grenzstädten und der Grenzregion die Rede ist. Es wird sich um Abgrenzung bemüht, damit die Region ihre Sinnhaftigkeit hat, Eingrenzung des Kunstbegriffs versucht, um dem Abend einen Rahmen zu geben, aber auch Ausgrenzung vorgenommen Wer von Grenzen spricht, unterscheidet zwischen hüben und drüben, dem Hier und dem Dort. Wer eine Grenze zieht, muss seine Position bestimmen und damit festlegen, ob er dazugehört oder dazugehören möchte. Bettel ficht das nicht. Es gebe dieser Tage Menschen, die Grenzen als Lösung für alle Probleme sehen, diktiert er den Ausstellungsbesuchern ins Erinnerungsbuch. Die nippen derweil am Wein. Manche an zu viel Wein.
Es ist die vorletzte Ferienwoche in der deutschen Hauptstadt. Man kommt aus dem Urlaub zurück und nutzt einen Abend mit Kunst und Wein, um bekannte Gesichter zu sehen, gemischte Gefühle zu haben. Man sieht sich, trifft sich, lebt von Erinnerungen, möchte Kunst sehen und mit seiner Sommerbräune kokettieren, mit Erlebnissen prahlen, aber doch bitte keine politische Rede an einem unpolitischen Ort hören. Müssen. „Ist eine Zwischenfrage erlaubt“, erhebt denn auch eine Besucherin, die durchaus zu sehr der Sommersonne gehuldigt hat, ihre Stimme. Bettel, nicht mit der Berliner Diskutier-und-Debattier-Wut vertraut, geht darüber hinweg: „Lassen Sie uns kennenlernen.“ Dazu bedürfe es der Worte und Werke, statt Gewalt und Grenzen, und Leute, die Kunst machen wollen, schließt er.
Wer Grenzen überschreitet, muss einen Standpunkt haben. Dazu war Bettel an diesem Spätsommertag nach Berlin gekommen, mehr als Kultusminister, denn als Premier. Nicht nur um die Gemeinschaftsausstellung Artmix der Luxemburgerinnen Elena Bienfait und Anina Rubin sowie Daniel Henrich aus Deutschland und der Französin Véronique Verdet, die in Saarbrücken lebt und arbeitet, zu eröffnen, sondern um ein wenig Glanz auf das Schaffen luxemburgischer Künstler jenseits der heimatlichen Anerkennung zu werfen. Und um damit den eigenen Standpunkt klarzumachen: Es gibt eine luxemburgische Kunstszene, die so vielfältig und weit ist, dass sie mit einer Stadt und mit einem Land nicht genug hat, sondern ganz Europa als Bühne braucht. Das mitunter auch an ungewöhnlichen Orten.
So besuchte Xavier Bettel auch die Ausstellung von Anne Michaux im Technologiezentrum (TZ) des Verbands der Deutschen Ingenieure (VDI). Zusammengefasst ergibt dies VDITZ. Künstlerinnen und Künstler können nicht immer wählerisch sein, wo denn ihre Kunst gezeigt wird. Mitunter ist man dankbar, wenn sie an Wänden hinter schmucklosen Konferenztischen und engen Stuhlreihen platziert werden, um wenigstens ein klein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen. Den Werken der luxemburgischen Fotografin Michaux ist dies allerdings abträglich, brauchen ihre filigranen, hintersinnigen Fotowerke doch Nähe und Distanz, um entdecken zu können und den Überblick zu bewahren. Genaues Hinblicken, um zu ergründen, wie Michaux ihre Fotografien wieder zusammensetzt, wie präzise sie Nähte setzt, um Traumwelten zu erschaffen, Realitäten zu verfremden, die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufhebt. Die PR-Maschinerie des VDITZ schaufelt einen Graben auf: „Mit unseren Schwerpunkten der Forschungsförderung, Innovationsbegleitung und Innovationspolitik sind wir Berater von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft Impulsgeber und Unterstützer für Innovationen. Und wir verstehen Kunst als einen wichtigen Impulsgeber im gesellschaftlichen und innovativen Kontext“, gibt Sascha Hermann zu Protokoll, Geschäftsführer des VDI TZ. Gibt es Grenzen von Belanglosigkeit und Banalität?
Kunst ist ein wesentlicher Bestandteil der kulturellen Identität eines Landes, einer Nation. Das ist in Luxemburg nicht anders, als in anderen Ländern dieser Welt. Kunst grenzt niemals aus, sondern öffnet sich dem Betrachter und lädt zu einer Auseinandersetzung über eigene und andere Sichtweisen ein. Anne Michaux beherrscht dieses Metier. Sie schärft den Fokus, verschiebt die Perspektive, schafft Modellwelten, die dann doch vollkommen real erscheinen. In der Gemeinschaftsschau Artmix 9 wird dies nicht immer klar, was bleibt in der Selbstreflexion, wo beginnt die Beschäftigung mit dem Gegenüber. Konkret: Warum bleibt Véronique Verdet bei der deutschen und französischen Sprache und wagt sich nicht in luxemburgische Sprach- und Denkmuster? Oder ist auch dies eine überkommene Übertragung des Konzepts der Nation in eine Kultur und in eine Kunst, die sich längst europäisiert haben, die Grenzen überhaupt nicht mehr kennt und für sich den Anspruch erhebt, längst kontinental, wenn nicht sogar universal zu sein. Michaux antwortet darauf auf ihre Weise, Artmix 9 versteckt sich in eingefahrenen Grenzen. Da ist nichts mit Kennenlernen. Dann bleibt es beim saarländischen Moselwein und einem Turm an Ei-Mayonnaise-Schnittchen, die wenigstens sättigen und kein Gedanke darüber, ob Kunst immer die Künstler satt macht.